Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
bekommen.
Währenddessen wurden die Kontakte nach Berlin immer enger. Dort war man auf dem Weg zum bewaffneten Kampf schon ein ganzes Stück weiter. Aus dem »Blues« der Szene um die »Umherschweifenden Haschrebellen« kristallisierte sich langsam eine erste Stadtguerilla-Formation heraus. Da konnte die Zöglings- und Erziehungsbewegung nicht zurückstehen. Vor allem Jan-Carl Raspe redete auf seine stille und bedächtige Weise gern über die Perspektiven eines Untergrundkampfes nach Tupamaro-Vorbild. Ulrike Meinhof drehte ihren Film »Bambule«, der einen Aufstand im Mädchenheim zum Thema hatte. Für Boock war Ulrike Theorie. Baader und Ensslin waren Praxis.
Eines Tages sagte Gudrun Ensslin ihrem jugendlichen Schützling: »Daß du dir keine Gedanken machst, wenn wir mal von einem auf den anderen Tag verschwinden sollten. Wir vergessen dich nicht. Wir kommen wieder auf dich zu. Mach dir darüber keine Gedanken.«
Peter-Jürgen Boock, gerade siebzehn Jahre alt, konnte damit leben. Als Andreas Baader, Gudrun Ensslin und die Geschwister Proll plötzlich von der Bildfläche verschwanden, zog er aus der Villa aus und in eine andere Wohngemeinschaft. Er wußte, sie würden ihn mitnehmen, wenn es wirklich losging.
Im Kopf hatte er noch ein Gespräch mit Gudrun, in dem er sich beschwert hatte, daß da offenbar irgend etwas ohne ihn lief: »Ich weiß gar nicht, was da abgeht, aber ich will dabeisein.«
Da hatte Gudrun gelacht und dann gesagt: »Das kann ich mir vorstellen. Aber du bist noch ein bißchen zu jung dafür. Ich will dich da nicht reinziehen. Das kann ich nicht verantworten.«
»Nun hör aber auf«, hatte Boock erwidert. »Bisher haben wir nie über Alter geredet, und jetzt fängst du plötzlich so an.«
Gudrun war plötzlich ganz ernst geworden: »Du, was wir da auf dem Schirm haben, das hat solche Dimensionen, das kannst du gar nicht beurteilen. Das hat was mit Lebenserfahrung zu tun. Das hat auch etwas damit zu tun, ob man für sich eine Sache abschließen kann. Das kannst du noch nicht in deinem Alter. Dazu hast du zuwenig gesehen, um dich entscheiden zu können. Aber du würdest dich entscheiden müssen. Und deswegen tun wir dir das nicht an.«
23. Auf der Flucht
Im November 1969 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Brandstifterurteils. Damit war das Frankfurter Urteil rechtskräftig. Baader und Ensslin hatten zwar kurz zuvor ein Gnadengesuch eingereicht, waren ihren polizeilichen Meldeauflagen – eher schlecht als recht – nachgekommen, mußten nun aber täglich mit der Aufforderung zum Strafantritt rechnen. Sie beschlossen, zusammen mit Proll erst einmal unterzutauchen. In der Tiefgarage des »Hertie«-Kaufhauses stiegen sie in den Wagen eines Freundes, der sie nach Hanau brachte. Dort wechselten sie das Auto und fuhren nach Saarbrücken. Ein weiteres Fluchtfahrzeug stand bereit und brachte sie über die Grenze nach Frankreich. Einer der Fluchthelfer fuhr voraus und machte Quartier im lothringischen Forbach. Ohne Zwischenfälle erreichte die Gruppe Paris; kein Wunder, denn zu dieser Zeit wurde keiner der Kaufhausbrandstifter überhaupt gesucht.
Wochenlang lebten sie in der Pariser Wohnung des französischen Schriftstellers und Revolutionstheoretiker Régis Debray, Kampfgenosse Che Guevaras. 1967 war Debray in Bolivien gefangengenommen und zu dreißig Jahren Haft verurteilt worden. 1970 wurde der Sohn einer einflußreichen französischen Familie freigelassen.
Die Wohnung im Quartier Latin galt als sicher. »Hierher kommt keine Kripo«, erzählte Gudrun Ensslin einem Besucher, »weil der Vater von Régis Politiker ist.« Telefonisch hielten die drei Flüchtlinge Kontakt zu ihren Freunden in Deutschland. Eines der ersten Gespräche führte Andreas Baader mit der Schwester Thorwald Prolls, Astrid. Sie sollte Bücher, Papiere und einen in einer Frankfurter Werkstatt zurückgelassenen Mercedes nach Paris bringen.
Ihr Bruder Thorwald erwartete sie – inmitten parkender Streifenwagen – vor dem Polizeipräsidium und lotste sie zur Debray-Wohnung. In den darauffolgenden Tagen durchstreifte das Quartett die Stadt. In einem Café fotografierten sie sich gegenseitig. Baader ließ die Bilder entwickeln, während Gudrun ihr Archiv, einen Koffer voller Zeitungsausschnitte, vor allem über den Brandstifterprozeß, ordnete.
Irgendwann tauchte eine Delegation von Fürsorgezöglingen auf, die wollte, daß sie zurückkämen. »Sie wollten nicht einsehen, daß wir uns diese Illegalität als
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