Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
müssen wir weitermachen«, antwortete Gudrun.
Wie sie weitermachen könnten, hatte ihnen kurz zuvor ein Italienreisender aus Berlin vorgeschlagen. Sie sollten doch zurückkommen und sich einer im Aufbau befindlichen militanten Gruppe anschließen. Der Tourist hieß Horst Mahler.
In Rom wurde ein weißer Alfa Romeo gestohlen, in dessen Handschuhfach die Kraftfahrzeugpapiere lagen. Astrid Proll wollte damit nach Deutschland fahren. In Österreich fuhr ihr im starken Schneegestöber ein anderer Wagen in die Seite. Die Scheibe platzte, und die Tür wurde eingebeult. Astrid fuhr zu Freunden aus früheren Zeiten, die in der Nähe wohnten. Auf einer Feuerwehrwache half man ihr mit etwas Plastikfolie aus, um das Fenster abzudichten. Ohne Schwierigkeiten kam sie mit dem gestohlenen Wagen über die deutsche Grenze und fuhr zunächst nach Frankfurt.
Andreas Baader und Gudrun Ensslin verließen Italien einige Tage später. Mitten in der Nacht standen sie vor dem Stuttgarter Pfarrhaus. Gudruns überraschter Vater beschwor die beiden, ihre Reststrafe zu verbüßen. »Geht doch hin und reißt die zehn Monate ab«, sagte er, stieß aber auf taube Ohren. »Wir gehen nicht in den Knast«, erklärte Gudrun kategorisch. »Nein, wir gehen nach Berlin, tauchen dort unter und wollen mal weitersehen.« Nachdem sie geduscht und gegessen hatten, fuhren sie noch in derselben Nacht weiter.
24. Bambule
Anfang 1970 war Ulrike Meinhof von Dahlem näher an das Berliner Zentrum gezogen. Mit den Zwillingen wohnte sie jetzt in Schöneberg, Kufsteiner Straße 12 . Eine Zeitlang lebte dort auch Peter Homann, jener ehemalige Kunststudent aus Hamburg, der nach dem 2 . Juni 1967 zusammen mit Gudrun Ensslin und anderen die »Albertz! – Abtreten«-Aktion gemacht hatte. Einen Freundeskreis wie in Hamburg hatte Ulrike Meinhof in Berlin nicht wieder gefunden.
Sie wollte das wohl auch nicht mehr. In der vielfältigen politischen Szenerie Westberlins, in der sich rasch alle Fronten veränderten, begegnete man etablierten Figuren, die nicht aus der Berliner politischen Subkultur kamen, eher mit Mißtrauen als mit Anerkennung.
Ulrike Meinhof war weiterhin eine vielbeschäftigte Journalistin. Seit Jahren hatte sie sich mit dem Thema Fürsorgeerziehung auseinandergesetzt, zahlreiche Artikel und Hörfunkfeatures über Jugendliche in Erziehungsheimen geschrieben.
Im Berliner Erziehungsheim Eichenhof hatte sie drei Mädchen kennengelernt, Jynette, Irene und Monika, deren Schicksal zur Grundlage des Drehbuches für den Film »Bambule« wurde. Die Dreharbeiten zu dem einzigen Fernsehspiel Ulrike Meinhofs begannen Ende 1969 .
In einem Hörfunkbericht hatte sie 1969 geschrieben: »Mit Fürsorgeerziehung wird proletarischen Jugendlichen gedroht, wenn sie sich mit ihrer Unterprivilegiertheit nicht abfinden wollen. Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem dem proletarischen Jugendlichen eingebleut wird, daß es keinen Zweck hat, sich zu wehren, keinen Zweck, etwas anderes zu wollen, als lebenslänglich am Fließband zu stehen … Bambule, das ist Aufstand, Widerstand, Gegengewalt – Befreiungsversuche. So was passiert meist im Sommer, wenn es heiß ist, wenn das Essen noch weniger schmeckt, wenn sich die Wut mit der Hitze in den Ecken staut. So was liegt in der Luft – vergleichbar den heißen Sommern in den Negerghettos der Vereinigten Staaten.«
Ulrike Meinhof wollte keine Trennung mehr von den Objekten ihrer Berichterstattung und den Personen, die von ihr mehr erwarteten, als nur beschrieben zu werden.
Bald standen sie vor ihrer Tür. Fürsorgezöglinge aus dem Frankfurter Projekt und Berliner Jugendliche, die um Einlaß baten. Einige erhielten Quartier, legten sich in die Betten, bedienten sich aus dem Kühlschrank, klauten und brachten Geklautes in die Wohnung, lärmten und bewarfen die Nachbarn vom Balkon aus mit Eiern. Ulrike fiel es schwer, die Jugendlichen vor die Tür zu setzen. Sie selber hatte Probleme genug. Sie stürzte sich in zahlreiche Projekte und Diskussionen, war nachts bis in den frühen Morgen unterwegs. Stunden später standen die Zwillinge in ihrem Schlafzimmer und riefen: »Aufstehen!« Sie kamen oft zu spät zur Schule. Ulrike Meinhof hatte Schuldgefühle, zuwenig für die Kinder zu tun.
Ein paar Tage vor Weihnachten 1968 hatte sie das Drehbuch für den Fernsehfilm an den Südwestfunk geschickt. »Hier endlich das MS «, schrieb sie an den zuständigen Fernsehredakteur Dieter Waldmann. »Zu
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