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Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Titel: Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Aust
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Zuhälter kennen. In dünne Blaumänner gehüllt, klappernde Holzlatschen an den Füßen, durften die Insassen Fischernetze knüpfen und bekamen dafür täglich vier Zigaretten Prämie. Oder sie konnten beim Bauern helfen, für eine Flasche Bier und vier Zigaretten am Tag. Wer an die frische Luft wollte, durfte in der Heringsfischerei arbeiten, dort, wo zuvor viele der Erzieher tätig gewesen waren. Nicht selten waren welche in Netzrollen hängengeblieben und hatten Finger, Arme oder Beine verloren. Das hinderte sie aber nicht daran, mit Gummiknüppeln auf die Zöglinge im Heim einzuprügeln, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.
    Doch die Revolte machte auch vor dem vergitterten Fenster des Heimes nicht halt. Als ein jugendlicher Insasse ein Paket von draußen bekam und der Gruppenleiter es ihm nicht aushändigen wollte, kam es erst zum Streit und dann zum Aufstand.
    Der Zögling schlug dem Gruppenleiter nach einem heftigen Wortgefecht einen Backstein auf den Schädel und griff sich sein Paket. Minuten später war die Hölle los. Die Heizungen wurden aus den Halterungen gerissen, die Betten zerlegt. Irgend jemand schüttete flüssiges Bohnerwachs die Holztreppe hinunter und steckte es in Brand.
    Die Heimleitung rief die Polizei, aber die fühlte sich dem Aufruhr nicht gewachsen und brachte gleich Marinesoldaten mit. Tränengasgranaten wurden ins Feuer geschossen. Kurz vor dem Ersticken gelang es Boock und ein paar anderen, sich mit Messern und Gabeln und Stemmwerkzeugen durch den Fußboden ins untere Stockwerk durchzuarbeiten. Sie waren mit dem Leben davongekommen, fanden sich aber umgehend im anstaltseigenen Bunker wieder. Drei mal drei Meter, eine mit Schimmel bedeckte Seegrasmatratze, ein Eimer, ein dreißig mal dreißig Zentimeter großes Fenster an der Decke. Kein Licht. Keine Zigaretten. Kein Hofgang.
    Nach vierzehn Tagen, das war die zulässige Obergrenze, wurden die Aufrührer aus ihrer Zelle entlassen. Die Erzieher hatten sich in Reih und Glied zu einer Knüppelgasse aufgebaut. Einmal durchgeprügelt, dann ging es wieder zurück ins Loch. Ein Fünfzehnjähriger meldete sich daraufhin freiwillig zum Netzeknüpfen in der Zelle. Er bekam Garn und Stricke und erhängte sich damit. Nach einem zweiten Selbstmord im Heim wurde der zuständige Abgeordnete im Kieler Landtag aufmerksam. Ein Untersuchungsausschuß sollte die Verhältnisse in Glückstadt aufklären.
     
    Peter-Jürgen Boock erfuhr nicht mehr, was dabei herauskam. Er wurde nach Hessen verlegt. Boock schmiedete sofort Ausbruchspläne. Doch die neue Zeit war im sozialdemokratischen Hessen schon bis zu den Toren geschlossener Jugendheime vorgedrungen.
    Kaum war er zwei Wochen dort, tauchte eine Gruppe des Pädagogischen Seminars der Universität Frankfurt auf. Einige der Studenten fielen schon optisch aus dem Rahmen: Sie trugen Lederjacken und Jeans und gaben sich locker, engagiert und kämpferisch. Ihre Namen hatte Boock schon einmal gehört: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Astrid und Thorwald Proll.
    Offenkundig hatten die zuvor aus der Haft entlassenen Brandstifter ihren revolutionären Elan nun auf die Befreiung von Fürsorgezöglingen konzentriert. Boock erzählte seine Geschichte von der Revolte in Glückstadt. Sie gefiel den Besuchern.
    »Wer seid ihr denn?« fragte Boock.
    »Wir sind die Brandstifter.«
    Boock wußte, daß Baader, Ensslin und Thorwald Proll bis zum Inkrafttreten ihres Urteils auf freien Fuß gesetzt worden waren.
    »Die haben uns eine Auflage gemacht«, erklärte einer aus der Gruppe. »Tätigkeit im sozialen Bereich. Das machen wir jetzt. Wir holen euch hier raus. Dann sehen wir, was wir daraus machen können.«
    Die Sozial-Brandstifter hatten Cola, Tabak und Mao-Bibeln mitgebracht. Doch Boock hatte es mehr auf Baaders Lederjacke abgesehen.
    »Tolle Jacke«, sagte er.
    Baader zog sie aus.
    »Da«, sagte er und reichte sie Peter-Jürgen Boock – und der wußte: »Das sind meine Leute.«
    Einige der Studenten eröffneten die Diskussion über Verbesserungsmöglichkeiten im Heim und wollten wissen, welche Vorschläge die jugendlichen Insassen selbst hatten. Diesen schwebte eine Art Selbstverwaltung vor. Doch das stieß bei Andreas Baader und seinen Kumpanen auf offene Ablehnung. Sie wollten das Heim nicht verbessern, sondern auflösen.
    Peter-Jürgen Boock kam das entgegen: »Daß wir hier für Verbesserung kämpfen, das könnt ihr euch abschminken. Es geht auf Sommer zu. Die Leute wollen raus. Die wollen kein schöneres Heim

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