Der Bann Der Magie
gewaltige emporbrausende Klarheit, die ihren Geist überflutete, war so blendend, daß sie Harran fast in die Knie zwang. Er hatte sich eingebildet, er habe den Himmel erschaut. Nun erkannte er, wie sehr er sich getäuscht hatte. Etwas griff nach ihm: Mriga. Er hielt ihre schlanken Arme, als wären sie die letzte Verbindung zur Wirklichkeit. Er sah nun Dinge, doch nicht mit den Augen. Andere Augen waren da, die sie innerhalb des Kreises beobachteten, keine stumpfen Tieraugen wie die der halbbetäubten Ratten, sondern Augen, die vor Freude tanzten, Augen, die in einem kleinen Hundekopf leuchteten und darauf warteten, daß sie durchbrachen, um ihre Besitzerin zu liebkosen.
»Möge alles sich öffnen!« rief Siveni, »möge der Weg für uns geebnet sein! Wir ziehen ein!« Harran spürte, wie sie das Glas hob, um es auf dem beschriebenen Marmor zu zerschmettern und so das Tor zu öffnen; und er spürte, wie sie zögerte und schwankte.
Seine Augen funktionierten wieder, sehr gegen ihren Willen. Da war Mondschein, wo keiner sein sollte, und Siveni blickte benommen auf die Schnittwunde in ihrem Arm, aus der Blut rann.
»Es ist falsch«, flüsterte sie. »Es dürfte nicht weh ' tun.«
Sie stürzte auf den Boden, das Glas flog aus dem Kreis, zerschellte an der falschen Stelle, und die kostbare Flüssigkeit ergoß sich zu einer schwarzen Lache im Mondschein.
Harran sank neben sie. Die Wundränder waren dunkel und entzündet. Er starrte Mriga entsetzt an. »Die Klinge.«
»Gift«, hauchte sie mit schmerzverzogenem Gesicht. »Aber ich habe sie den ganzen Tag nicht aus der Hand gegeben.«
»Gestern.«, murmelte Harran.
Vor ihrem inneren Auge sah Mriga den jungen Mann und sein todbergendes Kurzschwert. Einer von Fackelhalters Spitzeln.
Entsetzt richteten beide sich auf, mit noch einem kurzen Blick auf die schöne jugendliche Figur Sivenis, die Tausende von Jahren als ilsigische Göttin gelebt hatte; doch diese Tausende von Jahre holten sie nun in einer schwindenden Sekunde ein.
In diesem Augenblick sirrten die gefiederten Pfeile mit den Silberspitzen herbei und durchbohrten sie beide.
Als die Nachwirkung des Zaubers sich ein wenig gelegt hatte, kam Molin Fackelhalter hinter seinen Männern herbei. Ihm entging nichts in dieser Stadt, schon gar nicht, was jene taten, die dumme Liebe unvorsichtig machte. Sturmbringer, der sich selbst noch nicht ganz eingewöhnt hatte, hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert von unerwünschten Gottheiten, die in die eine oder andere Richtung über seine Mauer kletterten. Molin brach vorsichtig den Kreis, stieß die Scherben des Glases zur Seite, das Blut und Wein enthalten hatte, und berührte mit den Zehen den Haut-und-Knochen-Körper seiner ehemaligen Baumeisterin.
»Ich wollte, die Leute würden nicht versuchen, mich zu hintergehen«, brummte er. »Ohnehin Dummköpfe, die ihr Glück noch mit Zauber versuchen. Nichts so Mächtiges funktioniert mehr richtig.«
Seufzend drehte er sich um. »Räumt hier auf«, wies er einen seiner Männer an. »Und sorgt dafür, daß dieses Bauwerk morgen abgerissen wird. Wir können die Steine brauchen.«
Dann ging er, um noch zu ein wenig Schlaf zu kommen. Er hatte morgen einen langen Tag voll Arbeit für Sturmbringer vor sich.
Seine Leute schafften die Toten ins Leichenhaus und verließen den ehemaligen Tempel. Etwas nahmen sie nicht mit: etwas Kleines, das nun ganz hier war, in der Dunkelheit der Schatten jenseits des Mondlichts, etwas von der Form einer zierlichen Hündin mit zu vielen Leben hinter den Augen.
Tyr knurrte, stand auf und ging hinaus in die Nacht, um über einen Racheplan nachzudenken.
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Originaltitel: The Tie that Binds Copyright: 1986 by Diane Duane
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[1] Eine Hand für einen Gott von Diane Duane in Geschichten aus der Diebeswelt: Sturm über Freistatt , BasteiLübbe 20.122
[2] Am Fluß von Diane Duane in Geschichten aus der Diebeswelt: Die Farbe des Zaubers , Bastei-Lübbe 20.149
[3] Armeen der Nacht von C. J. Cherryh in Geschichten aus der Diebeswelt: Armeen der Nacht , Bastei-Lübbe 20.140
Walegrin
Freistatt bei Nacht
Lynn Abbey
Walegrin saß - verwundbar, gleichgültig - mit dem Rücken zu Freistatt. Ein Fuß ruhte auf einem Stück abgebrochenen Pfeiler, die Unterarme lagen auf einem angezogenen Knie. Seine Augen starrten leer auf den stillen, sternenhellen Hafen, in dem das schwachgekräuselte Wasser eine stärkere Brise versprach.
Eine dicke, dampfende Decke sonnenerhitzter Luft drückte seit vier Tagen auf die Stadt
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