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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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er das Haus verlassen hatte, waren ihm ein Dutzend neuer Ideen und Ängste durch den Kopf gegangen, die er schnellstmöglich zu Papier bringen musste, bevor sie sich wieder verflüchtigen konnten. Charles spürte, wie sein rechtes Augenlid zu zucken begann.
    Betont umständlich öffnete er seine Umhängetasche und entnahm geräuschvoll Dokumente und Stifte. Die junge Frau hob den Blick, sah ihn blinzelnd an und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Er stand verlegen mitten in der Bibliothek und hielt unbeholfen ein Bündel Unterlagen und eine baumelnde Tasche an die Brust gedrückt, während er sich umsah. Nur wenige andere Gelehrte nutzten um diese frühe Stunde die Bibliothek. Keine Frauen. Das Balliol College hatte überhaupt erst vor ein paar Jahren die erste weibliche Kraft eingestellt – die ersten Studentinnen würden nicht vor dem nächsten Herbstsemester eintreffen. Was nur bedeuten konnte, dass sie zu Besuch war, ein Gast und kein Mitglied des Lehrkörpers.
    Charles sah, wie sich Pendlehurst, der Bibliothekar, schweigend durch die langen Reihen von Büchern arbeitete, während sich sein Mund unablässig lautlos bewegte. Der Bibliothekar bemerkte Charles, sah die junge Frau an Charles’ Tisch und entschied sich, lieber außer Sicht zu verschwinden.
    Charles spürte, wie sich sein Kiefer verkrampfte. Er räusperte sich. Starrte die Frau an.
    Die junge Frau hatte ein langes Gesicht, beinahe pferdeartig. Schokoladenbraune Augen. Kastanienbraunes Haar, zurückgebunden zu einem Pferdeschwanz. Wieder sah sie zu ihm auf. Hielt seinem Blick stand, hob herausfordernd eine Augenbraue. Als er nicht reagierte – es war schwierig, da seine Augenbrauen bereits erhoben waren –, wandte sie sich wieder ihrer Beschäftigung zu, indem sie einen Stift zur Hand nahm und etwas auf ihren Notizblock schrieb. Charles betrachtete den Einband des ihm am nächsten liegenden Buches auf ihrem Tisch.
    Gesta Hungarorum.
    «Miss?»
    Sie blickte auf. «Ja?»
    «Es tut mir leid, aber Sie sitzen auf meinem Platz. Können Sie sich vielleicht woanders hinsetzen?»
    Sie lehnte sich zurück und musterte ihn mit verwirrter Miene. «Es tut Ihnen leid?», fragte sie schließlich mit französischem Akzent.
    «Nein, es tut mir natürlich nicht leid.» Charles zögerte stirnrunzelnd. «Es tut mir nicht leid. Ich meine, ich … Hören Sie, das ist
mein
Platz.»
    «Das ist Ihr Platz?»
    «Richtig. Mein Stuhl, an meinem Tisch.»
    «Ihr Stuhl an Ihrem Tisch.»
    Er spürte, wie sich seine Finger um seine Unterlagen verkrampften. Versuchte sich zu beruhigen. «Hören Sie, es ist kein Problem, okay?» Er deutete in die Bibliothek. «Es gibt reichlich andere freie Tische.»
    Sie folgte seiner Handbewegung. «Ja. Die Bibliothek ist recht leer.»
    Er erwartete, dass sie noch etwas sagte oder anfing, ihre Sachen zu packen, doch zu seinem Schrecken stellte er fest, dass sie nichts dergleichen vorhatte. Ihre Augen musterten ihn stattdessen ununterbrochen.
    Er lächelte. Nein, er öffnete den Mund und bleckte die Zähne. «Ich komme jeden Tag hierher. Und ich arbeite immer an diesem Tisch.»
    «Ein hübscher Tisch.»
    «Ja.»
    «Wenn ich jeden Tag herkommen würde, würde ich auch gerne hier sitzen.»
    «Wenn Sie jeden Tag herkämen, würden Sie rasch feststellen, dass man mich jeden Tag an diesem Tisch vorfindet.»
    Jetzt erwiderte sie sein Lächeln. «Außer heute.»
    Charles saugte die Luft ein. Hielt den Atem an. Atmete wieder aus. Versuchte das Muskelzucken in seiner Wange zu ignorieren. «Dem ist ganz offensichtlich so. Nun, ich möchte Sie nicht länger aufhalten, und ich würde wirklich gerne mit meiner Arbeit beginnen. Wenn Sie also bitte …» Er beendete den Satz nicht.
    «Wenn ich also bitte was?»
    Er wedelte mit einer Handbewegung in Richtung der vielen anderen Tische. «Einfach …»
    «Einfach was?»
    «Hören Sie, ich nehme an, Sie sind keine Studentin an diesem College. Sie wissen demzufolge wahrscheinlich nicht, mit wem Sie es zu tun haben, aber …»
    «Ich habe das Gefühl, ich werde es gleich erfahren.»
    «Nun, ich bin
Professor
Charles Meredith, und ich –»
    «Und ich bin Nicole Dubois.»
    «Das ist … das ist sehr nett. Erfreut, Ihre Bekanntschaft …», Charles stockte, verstummte, schüttelte den Kopf. «Herrgott noch mal – würden Sie vielleicht endlich von meinem Platz verschwinden?»
    «Ich denke …» Sie zögerte, tippte sich mit dem Stift gegen die Zähne und sah Charles an. «Ich denke nicht, nein.»
     
    Die

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