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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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Bibliothek öffnete während des Sommersemesters an Wochentagen um neun Uhr. Am nächsten Morgen beabsichtigte Charles dort zu sein, sobald die Türen aufgeschlossen wurden. Nachdem er den Campus am Tag zuvor verlassen hatte, war er so verärgert gewesen – so fixiert auf die Tatsache, dass sie ihm nicht nachgegeben hatte trotz seiner vollkommen höflichen und einfachen Bitte –, dass er sich den ganzen Nachmittag nicht mehr hatte konzentrieren können. Mit dem Ergebnis, dass er mit seiner Arbeit einen weiteren Tag hinterherhinkte.
    Wegen des starken Verkehrs erreichte er die Bibliothek erst zehn Minuten nach dem Öffnen. Gereizt stürmte er durch die Tür, marschierte an Pendlehurst vorbei und stand unvermittelt vor der jungen Frau, die auf seinem Platz saß, ihre Bücher in einem so unordentlichen Haufen über seinen Tisch verstreut, dass sie ihn anzubetteln schienen, er möge sie abstauben, alphabetisch sortieren und ordentlich aufstapeln.
    «Sie!»
    Sie blickte auf und lächelte, doch die Spur von Eis in ihrer Miene blieb ihm nicht verborgen. Ihr Haar, bemerkte er, war an diesem Morgen zu Zöpfen geflochten. «Guten Morgen.»
    «Was tun Sie hier?», schnappte er.
    Die junge Frau – Nicole, dachte er, ihr Name ist Nicole – deutete mit der offenen Hand auf das Durcheinander von Büchern. «Das Gleiche wie gestern, sehen Sie? Lesen. Schreiben.»
    «Ich habe heute eine Menge Arbeit zu erledigen.»
    «Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg.»
    Augenblicklich spürte er, wie seine Wangen heiß wurden. Sie besaß eine instinktive Begabung dafür, die richtigen Sätze zu finden, um ihn auf die möglichst unschuldigste Weise zu verspotten und gleichzeitig wütend zu machen. «Sie stören mich bei meiner Arbeit! Sie gefährden einen ohnehin bereits kritischen Zeitplan! Ich weiß nicht, woran
Sie
arbeiten, Miss, aber warum machen Sie das nicht an einem anderen Tisch?»
    Sie öffnete ihren Mund, sah seinen Gesichtsausdruck und zögerte. Dann: «Na los doch. Sagen Sie’s.»
    «Was?»
    «Bitte. Sagen Sie es.»
    «
Was
soll ich sagen?»
    «Fragen Sie mich, ob ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.»
    «Hören Sie, ich habe bereits …»
    «Na los. Fragen Sie mich.» Sie kramte in ihren Notizen. «Ich hab es mir aufgeschrieben, irgendwo hier.»
    «Das … das ist
unerhört

    «Unerhört! Ein gutes Wort, Charles. Un-er-hört.» Nicole ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, jede einzelne Silbe. «Wie hübsch es klingt.» Sie deutete auf den Rest des Saals. «Die Bibliothek ist fast leer. Aber Sie müssen ausgerechnet hier sitzen. Und Sie nennen mein Verhalten unerhört. Finden Sie das nicht ironisch?»
    «Lassen Sie mich jetzt auf meinen Platz?»
    «Okay, ich stelle die Frage für Sie.» Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sah ihn an. «Nicole, wissen Sie überhaupt, mit wem Sie reden?» Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. «Ja», sagte sie. «Mit einem eigenartigen Mann, der meint, ihm gehöre die Bibliothek des Balliol College, nur weil er einen Doktortitel hat.»
    «Nein, meint er nicht.»
    «Mit dem ebenso arroganten wie zwanghaften Professor Charles Meredith.»
    «Wie können Sie es wagen!»
    Sie hob die Augenbrauen. Charles starrte sie an. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Dann, mit einem plötzlichen Gefühl von Ohnmacht, so unglaublich lähmend, dass er ihrem Blick nicht länger standzuhalten vermochte, drehte er sich zum nächsten Tisch um und warf seine Papiere darauf. Er setzte sich. Suchte nach einem seiner Dokumente. Breitete es vor sich aus. Fand einen Stift, schraubte die Kappe ab, beugte sich vor. Spürte seine Ohren brennen und seine Hände zittern, während er sich zu konzentrieren versuchte. Stellte fest, dass seine Augen über Sätze und Absätze huschten, ohne irgendetwas zu begreifen.
    Vom nächsten Tisch hörte er ein Schnauben und hob den Blick. Funkelte die junge Frau an. Sie schüttelte den Kopf und machte keinen Hehl aus ihrer Belustigung. Er spürte, wie seine Halsschlagader zu pochen begann, erhob sich ungestüm, sammelte seine Siebensachen ein, stopfte sie in die Tasche und marschierte zum Ausgang.
    «À bientôt!»
, rief sie ihm hinterher.
    Draußen vor dem Gebäude ging er einige Male auf und ab, bis er sich wieder einigermaßen im Griff hatte. Nur noch siebenunddreißig Tage bis zum Vortrag in Princeton. Dem Minotaurus wuchsen bereits Hörner und Hauer. Charles konnte sich keinen einzigen weiteren verlorenen Tag erlauben.
    Nachdem er die Fäuste mehrfach geballt und

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