Der Bastard
dem Bild. Damals vor dreizehn Jahren wirkte er stärker, selbstbewusster und überlegener als heute, wenngleich sich wenig an seiner äußeren Erscheinung geä n dert hat. Er ist noch immer ein stattlicher Mann, dessen Haar mittlerweile ergraut ist. Seine Wangen wirken eingefallen, die Nase ist gerade und schmal, die Augen blau. Beim Lächeln zeigt er weiße Zähne, gepflegt und vollzählig. Sein Körper ist nach links geneigt, wo er sich auf einen Gehstock stützt, er kann den Schwund seiner Kräfte nicht leugnen. Von hinten stützt ihn eine Hand am Rücken, was kaum jemand im Zelt wahrnimmt. Die Frau, der die Hand gehört, scheint genau zu wissen, dass Schwäche nichts in der Öffentlichkeit zu suchen hat. In ihr e r kennt der Junge die Ehefrau.
Auf seinem Bild steht sie zwischen ihm, seiner Mutter und ihrem Mann. Im Hintergrund thront e i ne Burg über einem Fluss. Sie ist das Wahrzeichen dieser Stadt. Das Bild in der Hand des Jungen drückt vor allem e i nes aus: Stolz.
Nun ist es so weit. Sie verlassen die Bühne. Ein Chor aus zwanzig Frauen tritt auf und singt zu Ehren des alten Mannes. Es ist Musik aus dem Herzen, und sie berührt auch das Herz des Jungen. Doch er hat anderes zu tun. Er steckt das Bild zurück in den Rucksack und macht sich auf den Weg.
In Kürze wird er die ganze Wahrheit erfahren.
Draußen auf dem Festivalgelände bieten Händler Plunder aus aller Welt feil: Trommeln, bunte Tücher, Amulette, Töpfe aus Ton, Bilder von Jagdszenen, dünne schwarze Figuren. Sie verkaufen einen Traum von Afrika – oder ist es eher ein Albtraum?
Er läuft schnell durch diese enge Gasse, vorbei an stoff- und tandbehängten Buden und Garküchen, Friseur- und Wahrsagerzelten. Seine Brüder und Schwe s tern mustern ihn mit einem schnellen Blick.
Mir könnt ihr nichts vormachen. Ich bin taub für eure billigen Versprechen.
Unter der Brücke, die vor ihm liegt, sitzt eine Grupp e v on Weißen im Kreis. Sie sehen heruntergekommen aus, wie so viele seiner Landsleute. Jeder hält eine Trommel zwischen den Beinen und schlägt darauf ein. Sie trommeln sich frei, so scheint es ihm, von der Last des weißen Mannes.
Ihr wisst nicht, was Hunger ist, und ich begreife eure seltsame Verbundenheit mit meinem Land nicht. Kommt nur für einen Monat nach Afrika. Wer dann noch trommeln mag, der hat die Hoffnungslosigkeit verstanden.
Er blickt nach oben, in den Sternenhimmel. Er ist ihm völlig fremd. Er vermag nichts darin zu erke n nen – kein Zeichen, keinen Weg, kein Ziel.
Er muss sich beeilen, denn er will den alten Mann abpassen. Er rennt hinaus auf die Straße. Es ist du n kel, die Büsche schlucken jedes Licht. Am Straßenrand parkt ein Taxi.
Ein Rascheln. Er stolpert über einen Fuß und fällt der Länge nach hin. Seine Handflächen schmerzen.
«Hey, Negerkuss.»
Er spürt Gemeinheit und Hass in der Stimme.
Er wälzt sich auf den Rücken. Fünf junge Gesichter sehen von oben auf ihn hinab. Sie sind weiß.
«Komm, ich helf dir», sagt einer und streckt die Hand nach ihm aus. Er ergreift dankbar die Hand. Sie schleudert ihn in die Arme eines anderen. Der packt ihn und prügelt auf ihn ein.
Ein Mann, groß und kahlgeschoren, kommt mit mächtigen Schritten auf sie zugerannt. Er trägt einen Gürtel mit Nieten, eine Armeehose und Springe r stiefel.
Er beugt sich zu ihm hinunter.
Nein, ich will nicht sterben.
Zweiter Tag
2
Eine zarte Bewegung auf ihrem Bauch holte Dr. Pia Rosenthal aus dem Schlaf. Die Sonne schien durchs Fenster, und sie konnte den Duft frischgebrühten Kaffees riechen. Vor dem Bett kniete Hauptkommissar Kilian. Er hatte seinen Kopf auf Pias Bauch g e legt.
«Was machst du da?»
«Er bewegt sich nicht.»
Pia lachte und schob seinen Kopf weg.
«Das wird noch einige Wochen dauern.»
Sie stand auf und blickte auf den Wecker.
«Wieso bist du schon auf?»
«Ich muss etwas erledigen. Kaffee steht auf dem Tisch. Wann kommst du heute nach Hause?»
Pia schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und nahm einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Kilian und sie hatten den ganzen vergangenen Tag in ungewohnter Harmonie verbracht. Sie waren am Main spazieren gegangen, hatten in der Stadt in einem Café eine Pause gemacht und waren dann noch eine Stunde über das Afrika-Festival geschlendert. Dabei hatten sie einen Namen für das Kind gesucht und viel gelacht. Wie ganz normale Eltern, aber doch nur g e spielt von zwei guten Laienmimen.
Kilians Frage war für sie der Versuch, das Spiel
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