Der Bauch von Paris - 3
dieser grellen Helligkeit. Als Florent sah, wie sie versuchte, Rose zum Sprechen zu bewegen, vermutete er, daß sie ihn durch die halboffene Tür bemerkt habe. Seit er in den Markthallen beschäftigt war, begegnete er ihr auf Schritt und Tritt, wie sie in den überdachten Straßen herumstand, meist in Gesellschaft von Frau Lecœur und der Sarriette, und ihn alle drei verstohlen musterten, anscheinend über seine neue Stellung als Aufseher tief verwundert. Rose war wohl zu einsilbig, denn Fräulein Saget drehte sich für einen Augenblick um und schien sich Herrn Lebigre nähern zu wollen, der mit einem Gast an einem der lackierten gußeisernen Tische eine Partie Pikett spielte. Schließlich hatte sie sich vorsichtig hinter die Glaswand gestellt, als Gavard sie erkannte. Er konnte sie nicht ausstehen.
»Machen Sie doch die Tür zu, Florent«, sagte er rücksichtslos. »Man kann überhaupt nicht unter sich sein.«
Um Mitternacht wechselte Lacaille beim Hinausgehen leise ein paar Worte mit Herrn Lebigre. Bei einem Händedruck steckte ihm dieser vier Fünffrancsstücke zu, die niemand sah, und flüsterte ihm dabei ins Ohr: »Sie wissen, das macht zweiundzwanzig Francs bis morgen. Wer was verleiht, macht’s nicht mehr darunter … Vergessen Sie auch nicht, daß Sie von drei Tagen das Geld für den Wagen schulden. Alles muß bezahlt werden.«
Herr Lebigre wünschte den Herren allen eine gute Nacht. Er werde gut schlafen, meinte er und gähnte leicht, wobei er seine kräftigen Zähne sehen ließ, während ihn Rose mit ihrer Miene einer fügsamen Dienerin ansah. Er stieß sie an und befahl ihr, in dem kleinen Gelaß das Gas auszulöschen.
Auf dem Bürgersteig stolperte Gavard und wäre beinahe gefallen. Da er in witziger Stimmung war, bemerkte er: »Donnerwetter! Ich werde nicht von Erleuchtungen gestützt!«
Das wirkte sehr spaßig, und man trennte sich. Florent kam wieder; es zog ihn unwiderstehlich zu diesem kleinen verglasten Gelaß, zu Robines Schweigen, zu Logres Aufbrausen, zu Charvets kaltem Haß. Wenn er dann abends nach Hause kam, legte er sich nicht sogleich zu Bett Er liebte seine Dachkammer, diese Jungmädchenstube, wo Augustine Stoffstückchen, zarte und nichtige Frauendinge zurückgelassen hatte, die da herumlagen. Auf dem Kamin lagen noch Haarnadeln, goldbemalte Pappschachteln mit Knöpfen und Zuckerplätzchen, ausgeschnittene Bilder, leere Salbentöpfchen, die noch immer nach Jasmin dufteten; in der Schublade des Tisches, eines elenden Tisches aus weichem Holz, befanden sich Garn, Nadeln, ein Gebetbuch und daneben ein schmutziges Exemplar des »Traumschlüssels«. Ein weißes Sommerkleid mit gelben Punkten hing vergessen an einem Nagel, während auf dem Brett, das als Waschtisch diente, hinter dem Wasserkrug ein umgefallener Flakon Quittenhaarwasser einen großen Fleck hinterlassen hatte. Florent hätte sich in diesem Frauenalkoven nicht wohl gefühlt; aber aus dem ganzen Raum, aus der schmalen eisernen Bettstelle, den beiden Stühlen mit Strohgeflecht, selbst von der ausgeblichenen grauen Tapete, stieg lediglich der Geruch einfältiger Dummheit auf, der Geruch eines dicken kindischen Mädchens Und ihn beglückten die Sauberkeit der Vorhänge, die Kinderei mit den goldbemalten Schachteln und dem »Traumschlüssel«, die ungeschickte Koketterie, die die Wände bekleckste. Das erfrischte ihn und führte ihn zu Jugendträumen zurück. Er hätte Augustine mit ihren harten kastanienbraunen Haaren am liebsten nicht gekannt und geglaubt, bei einer Schwester zu sein, einem rechtschaffenen Mädchen, das rings um ihn in die unbedeutendsten Dinge die Anmut des werdenden Weibes legte.
Abends aber war es noch ein großes Labsal für ihn, sich mit den Ellbogen auf das Fenster seiner Mansarde zu stützen. Dieses Fenster schnitt in das Dach einen schmalen Balkon mit hohem Eisengeländer, wo Augustine in einem Kübel einen Granatapfelbaum zog. Seit die Nächte kühl wurden, ließ Florent den Granatapfelbaum im Zimmer am Fußende seines Bettes schlafen. Einige Minuten verweilte er da und atmete kräftig die frische Luft, die von der Seine über die Häuser der Rue de Rivoli zu ihm herüberwehte. Unten breiteten verworren die Dächer der Markthallen ihre grauen Tücher aus. Sie wirkten wie eingeschlafene Seen, in denen der flüchtige Widerschein irgendeiner Fensterscheibe den silbernen Glanz einer Welle entzündete. In der Ferne wurden die Dächer der Hallen des Schlachthofs und von La Vallée noch düsterer, waren nur
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