Der Bauch von Paris - 3
nach Zusammenballungen von Schatten, die den Horizont zurücktreten ließen. Er freute sich über das große Stück Himmel vor sich, über die unendliche Ausdehnung der Markthallen, die inmitten der zum Ersticken engen Straßen von Paris die unbestimmte Vision einer Meeresküste mit den erstorbenen und schiefergrauen Wassern einer Bucht, die kaum erzitterten beim fernen Grollen der hohlen See, in ihm aufkommen ließ. Selbstvergessen träumte er jeden Abend von einer neuen Küste. Es stimmte ihn sehr traurig und zugleich sehr glücklich, sich in diese acht Jahre der Verzweiflung zurückzuversetzen, die er außerhalb Frankreichs verbracht hatte. Fröstelnd schloß er dann wieder das Fenster. Wenn er vor dem Kamin seinen Stehkragen abnahm, beunruhigte ihn die Fotografie von Auguste und Augustine; mit ihrem blassen Lächeln sahen sie Hand in Hand zu, wie er sich auszog.
Die ersten Wochen, die Florent in der Seefischhalle verbrachte, waren sehr mühselig. Bei Méhudins war er auf offene Feindschaft gestoßen, die den ganzen Markt gegen ihn aufhetzte. Die schöne Normande wollte sich an der schönen Lisa rächen, und der Vetter war ein willkommenes Opfer.
Die Méhudins stammten aus Rouen. Louises Mutter erzählte noch, wie sie mit einem Korb Aale in Paris angekommen war. Sie war beim Fischhandel geblieben. Sie heiratete dort einen Akzisebeamten, der starb und ihr zwei kleine Mädchen hinterließ. Sie war es, die einst mit ihren breiten Hüften und ihrer wunderbaren Frische den Beinamen die »schöne Normande« erwarb, den ihre älteste Tochter erbte. Jetzt war sie in die Breite gegangen und schlaff geworden und trug ihre fünfundsechzig Jahre als eine Matrone, deren Stimme der feuchte Seefisch heiser gemacht und deren Haut er blau gefärbt hatte; durch die sitzende Lebensweise war sie unförmig geworden und ganz auseinandergequollen, den Kopf durch die Gewalt des Busens und die steigende Woge Fett zurückgeworfen. Niemals hatte sie übrigens der Mode ihrer Zeit entsagen wollen: sie behielt die geblümten Kleider bei, das gelbe Busentuch und das Kopftuch der klassischen Fischfrauen zusammen mit der lauten Stimme, den schlagfertigen Handbewegungen, den in die Hüften gestemmten Fäusten und den ihr von den Lippen sprudelnden Schimpfwörtern des Fischweiberkatechismus. Sie trauerte dem Marché des Innocents nach, sprach von den früheren Rechten der Pariser Marktfrauen, brachte Geschichten von mit den Polizeiinspektoren gewechselten Faustschlägen durcheinander mit Berichten von Besuchen bei Hofe zur Zeit Karls X. und Louis Philippes, im seidenen Kleid und mit großen Blumensträußen in der Hand. Mutter Méhudin, wie man sie nannte, war lange Zeit die Fahnenträgerin der Kongregation der Heiligen Jungfrau in der Kirche SaintLeu gewesen. Bei den Prozessionen in der Kirche trug sie ein Tüllkleid und eine Tüllhaube mit Atlasbändern und hielt mit ihren geschwollenen Fingern die vergoldete Stange des seidenen Banners mit den reichen Fransen hoch empor, auf das eine Muttergottes gestickt war.
Nach dem Klatsch des Viertels mußte sich Mutter Méhudin ein großes Vermögen erworben haben. Aber davon sah man kaum etwas bis auf den massiven Goldschmuck, mit dem sie sich an Festtagen Hals, Arme und Brust zu behängen pflegte. Ihre beiden Töchter verstanden sich später nicht miteinander. Die jüngere, Claire, eine arbeitsscheue Blondine, beklagte sich über Louises Rücksichtslosigkeiten und erklärte in ihrer langsamen Sprechweise, daß sie niemals die Magd ihrer Schwester abgeben werde. Da sie sich bestimmt schließlich geschlagen hätten, brachte die Mutter sie auseinander. Sie überließ Louise den Stand mit den Seefischen. Claire, die von dem Geruch der Rochen und Heringe Husten bekam, machte einen Stand mit Süßwasserfischen auf. Und obwohl die Mutter geschworen hatte, sich zur Ruhe zu setzen, lief sie von dem einen Stand zum andern, mischte sich nach wie vor in den Verkauf und bereitete den Töchtern mit ihren saftigen Unverschämtheiten ständigen Ärger.
Claire war ein wunderliches Geschöpf, sehr sanft und fortwährend in Streit. Sie richte sich nur nach ihrem Kopf, hieß es. Mit ihrem verträumten Madonnengesicht hatte sie einen stummen Eigensinn, einen Unabhängigkeitsdrang, der sie dazu trieb, für sich zu leben und nichts wie die anderen hinzunehmen, von unbedingter Geradheit heute, von empörender Ungerechtigkeit morgen. An ihrem Stand setzte sie manchmal den ganzen Markt in Aufruhr, weil sie die Preise
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