Der Baum des Lebens
Schatten blieb, konnte Gergu so viel wie möglich herausbringen, um sowohl Medes als auch seiner eigenen Laufbahn nützlich zu sein. Und falls Sesostris doch andere Pläne hatte, als er annahm, würde er auch das erfahren.
Obwohl Senânkh Namen und Rang angegeben hatte, nahm der Offizier, der die Anlegestelle überwachte, bei ihm eine Leibesuntersuchung vor – genauso wie bei Gergu. Die vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen waren so streng, dass sich ihnen auch die höchsten Würdenträger unterziehen mussten.
»Ihr bekommt Wachen zur Begleitung und dürft Euch hier auf keinen Fall allein bewegen. Falls jemand gegen die Vorschriften verstößt, haben die Bogenschützen Befehl zu schießen.«
»Ich muss zum Tempel, um den Oberpriester zu treffen«, erklärte Senânkh. »Und Gergu möchte sich mit dem Verwalter der Stadt von Pharao Sesostris unterhalten.«
»Ich werde sie verständigen. Wartet bitte hier.«
Senânkh und Gergu setzten sich im Schatten einer Sykomore auf Hocker. Ein Soldat brachte ihnen Wasser.
»Dieser Ort ist nicht besonders einladend«, fand Gergu. »Die Schätze und die Geheimnisse von Abydos werden wirklich gut gehütet! Was machen die Priester hier eigentlich?«
»Sie erforschen den Himmel, die Medizin, die Magie und alle anderen Wissenschaften, die der Gott Thot verkündet hat. Ihre Hauptaufgabe besteht allerdings darin, die Mysterien von Osiris zu feiern – jedenfalls was die Spitze ihrer Zunft anbelangt. Wird das Ritual nicht regelgerecht zelebriert, gibt es ein großes Durcheinander.«
»Findet Ihr dieses Aufgebot an Wachen und Soldaten und diese übertriebene Wachsamkeit nicht auch etwas merkwürdig?«
»Abydos ist der heiligste Ort von ganz Ägypten, Gergu. Er verdient durchaus besondere Aufmerksamkeit.«
»Kann sich denn die Gottheit nicht selbst verteidigen? Und wer sollte es überhaupt wagen, das Reich von Osiris zu entweihen?«
»Sind die Menschen nicht zum Schlimmsten fähig?«
»Nun gut, ich freue mich jedenfalls, dass ich den Tempel sehen kann.«
»Da täuschst du dich, du hast nur Zutritt zu den Verwaltungsgebäuden. Begnüge dich damit nachzufragen, ob die Nahrungsmittelvorräte ausreichen, höre dir Klagen und Wünsche an und versprich, dass alles Notwendige so schnell wie möglich erledigt wird.«
»Und Ihr, werdet Ihr den Tempel sehen?«
»Mein Auftrag ist geheim, Gergu.«
Der Kahle empfing den Großen Schatzmeister Senânkh in einem Nebengebäude von Osiris’ Tempel. Hier trafen sich die Priester zu einer kurzen Ruhepause und besprachen die alltäglichen Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatten und die möglichst gut aus dem Weg geräumt werden mussten, damit nichts den vorschriftsmäßigen Verlauf der Riten stören konnte.
Senânkh hatte so gut wie nichts von Abydos gesehen, wo eine bedrückende, beinahe schmerzliche Atmosphäre herrschte. Und der Gesichtsausdruck des Kahlen verhieß auch nichts Gutes.
»Pharao Sesostris hat mir einen äußerst heiklen, aber unumgänglichen Auftrag erteilt.«
»Warum ist er nicht selbst gekommen?«
»Weil er wegen dringender Angelegenheiten anderswo sein muss. Als Mitglied des Königlichen Rats bin ich ermächtigt, in seinem Namen zu handeln.«
»Habt Ihr einen Brief bei Euch, den er eigenhändig unterzeichnet hat?«
»Traut Ihr mir etwa nicht?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Hier ist das Schreiben.«
Der Kahle untersuchte den Brief gründlich. »Das ist tatsächlich das Siegel des Pharaos und auch die Schrift Seiner Majestät. Was wollt Ihr denn?«
»Ich will wissen, woraus genau der Tempelschatz besteht.«
»Das ist ein Reichsgeheimnis.«
»Ich vertrete hier das Reich, deshalb müsst Ihr mir diese Auskunft geben, die ich unmittelbar an den Herrscher weiterreiche – und nur an ihn.«
»Dann soll er selbst kommen und den Schatz untersuchen. So ist keine Unbedachtheit möglich.«
»Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich habe einen Befehl erhalten, und diesen Befehl muss ich ausführen. Ihr habt keine Wahl: Ihr müsst mir gehorchen.«
»Ich gehorche ausschließlich Seiner Majestät.«
»Muss ich Euch noch einmal daran erinnern, dass er es ist, der mich hierher geschickt hat!«
»Ich verlange eine Bestätigung.«
Senânkh schlug nun einen anderen Ton an. »Ihr beleidigt mich und den Königlichen Rat!«
»Das ist mir immer noch lieber, als etwas Unkluges zu tun. Auch wenn Ihr der Große Schatzmeister seid, habt Ihr hier nichts verloren. Kein Ränkespiel des Palastes darf den Frieden dieses
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