Der Baum des Lebens
heiligen Pflichten hinderlich sein.«
»Ich bin hier, um diesen Missstand zu beseitigen und dafür zu sorgen, dass Eure geistige Ruhe durch nichts gestört wird«, antwortete Gergu feierlich.
Nach reiflicher Überlegung, bei der er seinen ersten Eindruck nicht zurücknehmen musste, beschloss der Kahle, dem Pharao seine Entscheidung mitzuteilen – wie ihn der Monarch aufgefordert hatte.
Ja, der Goldene Kreis von Abydos brauchte neue Kraft und Stärke. Und der Große Schatzmeister Senânkh wäre ein würdiges Mitglied.
49
Ungläubig rieb sich Iker die Augen.
»Das soll meine Dienstwohnung sein?«, fragte er den Verwalter des Stadtvorstehers, der ihn zu einem schönen Haus im östlichen Viertel Kahuns gebracht hatte, wo es nur großzügige Anwesen gab.
»Heremsaf, dein unmittelbarer Vorgesetzter, lässt dich bei sich wohnen. Aber sei vorsichtig, er ist nicht einfach.«
Diese Stadt war anders als alle anderen. Über zehn Hektar Fläche erstreckte sich das Ostviertel, das durch eine Mauer aus rohen Ziegeln vom Westviertel getrennt war, das nur vier Hektar umfasste. Etwa zehn Straßen führten parallel durch die Stadt, die eine neun Meter breite Hauptstraße von Norden nach Süden durchquerte. Ganz offensichtlich hatte ein Baumeister den Stadtplan entworfen, der Unordnung verabscheute.
Der Verwalter klopfte an die Tür.
Der Mann, der ihnen öffnete, wirkte in der Tat wenig einnehmend. Ein perfekt gestutzter Bart zierte sein kantiges Gesicht.
»Das ist Iker, der Schreiber, der in den Kornspeichern arbeiten soll. Er…«
»Ich weiß, was er zu tun hat, und ich weiß auch, was ich zu tun habe, Verwalter.«
Letzterer verschwand von der Bildfläche, während Heremsaf mit dem Finger auf Nordwind zeigte.
»Was ist das?«
»Mein Esel, er…«
»Ich kann sehr wohl zwischen einem Esel und einem menschlichen Wesen unterscheiden, auch wenn der Unterschied zwischen ihnen oft nur winzig ist. Ich will wissen, wozu er gut ist.«
»Nordwind trägt mein Schreibwerkzeug.«
»Woher hast du es?«
»General Sepi hat es mir gegeben, er war mein Lehrer in der Provinz…«
»Ich kenne General Sepi und weiß, in welcher Provinz er unterrichtet. Wann und warum hat er dich aus seiner Klasse ausgeschlossen?«
»Ich wurde nicht ausgeschlossen! Weil ich sein bester Schüler war, hat mir Fürst Djehuti eine schwierige Arbeit anvertraut.«
»Selbst die aufmerksamsten Schreiber machen Fehler. Was war das für eine Arbeit?«
»Ich musste eine Liste über die Stärken und Schwächen der Provinz anlegen. Ich habe die Berichte der anderen Schreiber geprüft und Djehuti ungeschönt Auskunft erteilt.«
Heremsaf zuckte mit den Achseln. »Du bist viel zu jung für eine derart heikle Aufgabe.«
»Ich versichere Euch…«
»Ich kenne das Gebiet, nicht du. In Wahrheit musstest du wahrscheinlich alte Archive aufräumen… Du musst lernen zuzuhören. Zuhören ist mehr wert als alles andere. Wer gut zuhört, spricht auch gut.«
»Und Gott liebt den, der zuhört«, ergänzte Iker.
»Du kennst Ptah-Hoteps Lehrsätze! Umso besser. Vergiss vor allem diesen nicht: ›Der Unwissende hört nicht zu, er setzt das Wissen mit dem Unwissen gleich und lebt von dem, was sterben macht.‹ Und nun zur Wahrheit: Warum willst du in Kahun arbeiten?«
»Weil hier die besten Schreiber des Königreichs ausgebildet werden.«
»Und zu ihnen willst du gehören! Weißt du nicht, dass falscher Ehrgeiz eines der schlimmsten Laster ist? Eine unheilbare Untugend, die Quelle allen Übels.«
»Ist es falscher Ehrgeiz, wenn man sich in seinem Beruf auszeichnen will?«
»Wir werden ja sehen. Bist du sicher, dass du mir alles gesagt hast?«
»Im Augenblick ja.«
»Du hast Glück, in meinem Stall ist ein Platz frei. Aber ich dulde nur fleißige und brave Esel. Das Gleiche gilt übrigens auch für dich. Meine Köchin macht das Essen für dich. Dafür räumt aber das Hausmädchen dein Zimmer und dein Bad nicht auf. Halte alles gründlich sauber und ordentlich, sonst werfe ich dich raus. Dieses Haus hat ein Vorbild an Sauberkeit zu bleiben. Falls es Schwierigkeiten geben sollte – bitte keine unüberlegten Handlungen. Du fragst mich um Rat und befolgst meine Anweisungen. Richte dich schnell ein, wir brechen in einer Stunde auf.«
Als er seine neue Bleibe sah, vergaß Iker sofort die spitzen Bemerkungen seines Gastgebers. Das Zimmer war groß und hell und mit zwei erstklassigen Matten, einem niedrigen gepolsterten Bett mit Kopfende und feinen
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