0959 - Der Fallbeil-Mann
In diesem Augenblick kehrte auch die Erinnerung zurück. Ich lag nicht in meinem Schlafzimmer, ich befand mich nicht einmal in London, sondern einige Kilometer von dieser Stadt entfernt. Ich lag in einem fremden Zimmer, aber auch nicht in einem Hotel, sondern in einem Schloß, in Mosley Manor.
Und ich war angezogen. So wie ich mich auf das Bett gelegt hatte, fand ich mich auch wieder. Die Jeans, das Hemd, die Weste, nur die Jacke hatte ich über einen Haken gehängt.
Ärger über mich selbst stieg hoch. Ich hatte nicht einschlafen wollen. Es war alles zu schlecht gelaufen. Ich hatte wach bleiben und Wache halten sollen, das war mit Sir Vincent Mosley abgesprochen, und dieses Einschlafen empfand ich als Blamage.
Aber was hatte mich geweckt?
Es mußte irgendein fremdes Geräusch gewesen sein, so gut kannte ich mich selbst. Immer wenn ich plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurde, hatte es dafür Gründe gegeben, und das würde sich hier auf Mosley Manor auch nicht geändert haben.
Ich stand auf. Inzwischen hatte ich mich auch an die Lage des Lichtschalters erinnert. Es gab hier keine Lampe, die auf dem Tisch stand, sondern nur die Wand-und Deckenleuchten. Ich machte also Licht und betrachtete die großen, wuchtigen Möbel. Sie stammten nicht aus dieser Zeit. Es waren Zeugen einer Jahrhunderte zurückliegenden Vergangenheit. Wenn sie hätten reden können, dann hätten sie bestimmt über mordlüsterne Jahre und Jahrzehnte gesprochen, wo es zum guten Ton gehörte, wenn sich der Adel gegenseitig den Krieg erklärte.
Ich zog meine Schuhe an, schnürte sie zu und spürte unter mir die Weichheit der Teppiche. Es lagen mehrere zusammen, zum Teil auch aufeinander, so daß die Bohlen des Fußbodens nicht zu sehen waren.
Ich zog meine Jacke über, bewegte mich aber nicht auf die Tür zu, sondern löschte das Licht und ging zum Fenster, dessen Scheibe von keinem Vorhang verdeckt wurde.
Davor blieb ich stehen.
Mein Blick fiel nach draußen in die Nacht. Sie war düster, der Himmel zeigte dicke Wolkenschichten. Hinzu kam der Dunst, der träge über das Land zog. Hoffentlich ging dieser lange, harte und strenge Winter endlich zu Ende.
Der Griff quietschte, als ich ihn drehte und das Fenster aufzog. Die kühle Luft erwischte mich, und verteilte sich im Zimmer.
Es lag in der dritten Etage des Schlosses, auf dessen Hof ich schauen konnte. Wegen des grauen Dunstes und der Dunkelheit verschwammen die Konturen, aber nach einigen Sekunden klärte sich mein Blick, und ich konnte den kleinen Teich erkennen, dessen Oberfläche bis vor kurzem noch komplett mit Eis bedeckt war.
Inzwischen war an einigen Stellen das Eis bereits getaut.
Vor meinen Lippen kondensierte der Atem. Ich suchte den Rand ab.
Mein Wunsch erfüllt sich nicht, denn irgendwelche Bewegungen waren nicht zu erkennen. Selbst die tief nach unten hängenden Zweige der Trauerweide bewegten sich nicht. Der Wind war eingeschlafen. Deshalb blieb auch der Dunst.
Mir war trotzdem etwas aufgefallen. Ich hatte mich dabei schon aus dem Fenster beugen müssen, um nach unten zu schauen. Vor dem Mauerwerk sah ich eine helle Insel. Sie wurde von dem Lichtschein geschaffen, der aus den Fenstern fiel, die zu den Zimmern des Schloßherrn Sir Vincent Mosley gehörten.
Ich runzelte die Stirn und dachte daran, was er mir zwei Stunden vor Mitternacht gesagt hatte.
»Ich werde mich hinlegen, Mr. Sinclair. Es ist durchaus möglich, daß er noch in dieser Nacht erscheint, aber wetten würde ich an Ihrer Stelle darauf nicht. Deshalb sollten auch Sie in Ihr Zimmer gehen und versuchen, ein wenig zu schlafen.«
»Sie meinen, er kommt erst in der nächsten oder übernächsten Nacht, Sir Vincent?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Er spielt mit uns, verstehen Sie? Mal ist er da, mal nicht.«
»Gut, wie Sie wünschen.«
Wir waren beide zu Bett gegangen und ich war sofort weggesackt. Wie es ihm ergangen war, wußte ich nicht, aber jetzt war er wach, davon ging ich aus.
Und ich schlief ebenfalls nicht mehr.
Hatte uns etwas geweckt? Ein Geräusch, das wir beide gehört oder das wir nur im Unterbewußtsein wahrgenommen hatten?
Es hatte keinen Sinn, wenn ich mir darüber Gedanken machte. Wollte ich mehr erfahren, mußte ich Sir Vincent fragen.
Er war ein komischer Kauz, der allein auf seinem Schloß lebte. Er brauchte nicht zu arbeiten, er ließ auch nicht arbeiten, sein Vermögen reichte bis zu seinem Lebensende aus. Das hatte er mir mit einem gewissen Stolz in der Stimme erklärt, und ich
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