Der Baum des Lebens
Leintüchern für den Sommer, warmer Bettwäsche für den Winter, Truhen für seine Habseligkeiten und zwei Öllampen ausgestattet!
Noch ganz benommen, führte Iker seinen Esel in den Stall, der hinter dem Haus in der Nähe der Küche lag. Auch hier wurde er nicht enttäuscht. Nordwind bekam einen luftigen großen Raum für sich allein, ausreichend Futter und einen gut gefüllten Wassertrog.
»Ich glaube, so viel Glück muss man sich verdienen.«
Der Esel stellte sein rechtes Ohr auf.
»Iss und trink, so viel du willst, Nordwind, aber beeil dich bitte. Ich bin mir sicher, dass unser Herr keine Verspätung duldet.«
Da täuschte sich Iker nicht. Heremsaf erwartete sie bereits vor seinem Haus.
»Glaubst du, der Esel kann auch mein Schreibwerkzeug tragen?«
»Was meinst du, Nordwind?«, fragte ihn Iker.
Der Esel gab sein Einverständnis.
»Wenn ich das recht sehe, entscheidet er!«, stellte Heremsaf erstaunt fest.
»Er ist mein einziger Freund.«
Vorsichtig verstaute Heremsaf nun seine Palette, seine Schreibtafeln und Pinsel in einem der Packsäcke.
»Los geht’s!«
In der ganzen Stadt herrschte rege Betriebsamkeit. Selbst die Straßenkehrer, die die Hauptstraße und die Nebenstraßen fegten, waren sehr fleißig.
»Damit das klar ist«, machte Heremsaf nähere Angaben zu seiner Tätigkeit, »der Pharao hat mich zum Verwalter der Pyramide von Sesostris II. und dem Anubis-Tempel ernannt. Das heißt, ich muss mich um die Lieferungen von Bier, Brot, Fleisch, Getreide, Öl und Duftwässern kümmern, die Rechnungen prüfen, die Arbeit der Angestellten und die Verteilung der Lebensmittel überwachen und auch noch ein Tagebuch führen. Diese anstrengende Aufgabe lässt mir keine Freizeit. Wer für mich arbeiten will, muss deshalb seine Fähigkeit unter Beweis stellen. Nichtsnutze sind hier fehl am Platz.«
Die Silos beeindruckten den jungen Schreiber sehr. In Anbetracht ihrer Anzahl und Größe mussten die Einwohner von Kahun wohl kaum Hunger leiden! Die kleine Stadt genoss ganz offensichtlich die besondere Gunst des Königs.
»An die Arbeit«, sagte Heremsaf trocken.
Iker nahm sich sein Schreibwerkzeug. Auf einer Schreibtafel listete er die Anzahl der frei stehenden Silos auf, dann wandte er sich den Silos zu, die in Batterien standen und zwischen acht und zehn Metern hoch waren. Anschließend nahm er sie von innen in Augenschein, das heißt, er prüfte den Zustand der Ziegel, die Festigkeit der gewölbten Decken und ob die Gebäude völlig dicht waren – nur so konnte Getreidebrand vermieden werden.
Als es allmählich dunkel wurde, ging Iker zu seinem Vorgesetzten.
»Ich werde einige Tage brauchen, bis ich weiß, ob diese Silos in einwandfreiem Zustand sind. Dazu muss ich meine Aufzeichnungen auswerten und weitere Untersuchungen anstellen.«
Heremsaf sagte nichts dazu. »Ich begebe mich jetzt zum Anubis-Tempel. Geh nach Hause, dort erwartet dich ein Abendessen. Morgen kommst du bei Tagesanbruch wieder hierher.«
Die Pfropfen zum Verschließen der Einfüllöffnungen oben auf den Silos waren in Ordnung, aber einige Türen auf der Vorderseite, durch die man die Vorräte entnahm, hatten sich verzogen. Iker fertigte ein paar Skizzen an und erläuterte ganz genau mögliche Gefahren. Doch das waren alles nur Kleinigkeiten im Vergleich zu dem entscheidenden Mangel, den er entdeckt hatte. Gedankenverloren überlegte Iker gerade, wie er diesen Mangel am genauesten beschreiben könnte, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.
»Bist du der neue Schreiber für die Getreidespeicher?«, fragte ihn ein großer, fülliger Mann um die fünfzig.
»Ich bin nur Heremsafs Helfer.«
»Heremsaf kann einen bis aufs Blut reizen. Er verabscheut die gesamte Menschheit und ist nur darauf bedacht, seinen Zeitgenossen Ärger zu bereiten.«
»Ich kann mich über meinen Herrn nicht beklagen.«
»Wart’s ab, das kommt schon noch! Was machst du denn hier?«
»Ich prüfe den Zustand der Silos.«
»Da vergeudest du nur deine Zeit. Es gibt keine Schwierigkeiten.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Weil ich die gleiche Untersuchung letztes Jahr durchgeführt habe. Es ist alles in Ordnung, kann ich dir nur sagen.«
»Da bin ich mir aber nicht so sicher.«
»Was redest du denn da, Freundchen? Ich bin ein erfahrener und angesehener Schreiber. Niemand zweifelt an meinen Worten.«
»Wenn das so ist, warum bist du dann nicht auf deinem Posten?«
»Ich muss schon sagen, du bist ganz schön unverschämt! Zeig mir deinen
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