Der Baum des Lebens
Treppe auf die Terrasse mit den drei Öffnungen für die Getreidebehälter gelangte. Fast in Fußbodenhöhe waren Klappen angebracht, die man bedienen musste, um Getreide zu entnehmen.
»Diese Treppe entspricht nicht den Vorschriften«, stellte Gergu fest. »Sie hat viel zu wenig Stufen und ist schlecht verarbeitet.«
»Von dieser Vorschrift weiß ich aber nichts!«
»Jetzt weißt du es.« Gergu öffnete eine Klappe. »Das Holz ist morsch. Dieses Teil hätte schon längst ersetzt werden müssen.«
»Aber sie lässt sich ausgezeichnet bedienen, das könnt Ihr mir glauben!«
»Auf der Mauer müssten eigentlich die Namen der Besitzer der einzelnen Felder stehen.«
»Hier stehen sie auch, seht bitte her.«
»Sie sind kaum noch zu entziffern. Das sieht mir aber sehr nach versuchter Steuerhinterziehung aus.«
»Nein, Herr, auf keinen Fall! Die Verwaltungsbeamten kennen diese Leute alle ganz genau, und es hat noch nie Ärger gegeben.«
Gergu erklomm die Treppe so vorsichtig, als wäre sie höchst gefährlich.
»Die Terrasse ist viel zu schmal gebaut. Da könnte es sehr leicht zu Arbeitsunfällen kommen. Die Gesundheit der Landarbeiter scheint dich ja nicht besonders zu kümmern.«
»Doch, ganz im Gegenteil, Herr! In unserem Dorf werden sie sehr gut behandelt.«
Gergu warf einen Blick ins Innere eines Speichers.
»Hier wäre eine gründliche Überholung dringend notwendig. Der bauliche Zustand der gesamten Anlage erscheint mir äußerst bedenklich.«
»Ehe der Speicher neu befüllt wurde, habe ich ihn ausgeräuchert und frisch gestrichen, ich…«
»Dein Fall ist besonders ernst. So viele Mängel auf einmal habe ich noch bei keinem anderen Speicher gefunden. Meines Erachtens musst du deswegen ins Gefängnis.«
Der Mann wurde blass. »Das verstehe ich nicht, Herr, ich…«
»Es gäbe vielleicht noch eine andere Möglichkeit. Falls du sofort in die Zahlung einer hohen Geldstrafe einwilligst, könnte ich dir das Gefängnis vielleicht ersparen.«
»Muss das denn wirklich sein?«
»Es ist sicher nicht die beste Lösung, weil ich dann trotzdem immer noch einen Bericht für meinen Vorgesetzten schreiben muss. Es gibt zwar noch eine andere Möglichkeit, die wage ich dir aber gar nicht vorzuschlagen.«
»Nun sagt schon!«
»Ich kürze die Geldstrafe um die Hälfte und verfasse keinen Bericht, wenn du mir das Geld, das ich verlange, sofort gibst und den Mund hältst.«
Der Mann überlegte nicht lange. »Einverstanden«, sagte er, »wenn die Sache damit erledigt ist.«
»Das ist sie. Solltest du allerdings den Mund nicht halten können, stünde mein Wort gegen deins. In dem Fall behaupte ich, du hättest versucht, mich zu bestechen, dann kommst du ins Gefängnis und verlierst alles.«
»Ich sage kein Wort.«
»Du bist ein kluger Mann. Sei froh, dass ich dich vor dem Schlimmsten bewahrt habe.«
Gergu konnte gar nicht sagen, wie dankbar er seinem Beschützer Medes dafür war, dass er einen solchen Posten für ihn gefunden hatte. Bei jeder Untersuchung eines bescheidenen Kornspeichers bereicherte er sich und musste keine Angst vor Beschwerden haben, weil er die Betroffenen erpresste. Darüber hinaus erwies er sich auch noch als eifriger Verfasser ausführlicher Berichte für seinen Vorgesetzten.
In Senânkhs Gegenwart gab sich Gergu tugendhaft und dermaßen dem Allgemeinwohl verpflichtet, dass er kaum Zeit fand, sich um sich selbst zu kümmern.
»Wir brechen auf«, eröffnete ihm der Große Schatzmeister. »Ein Auftrag…«
»In welche Gegend?«
»Nach Abydos.«
»Dieser Ort ist Weltlichen verboten!«
»Befehl vom Pharao.«
»Hat Seine Majestät Verdacht auf Unterschlagungen?«
»Wir müssen ohne Ausnahme alle größeren Orte besuchen, diesen wie alle anderen auch. Sieh zu, dass dein Reisegepäck morgen früh fertig ist.«
Gergu überlegte. Besaß der Pharao nicht bereits genaue Aufzeichnungen über die Reichtümer aller großen Tempel? Bei längerem Nachdenken schien das wenig wahrscheinlich. Mehrere Provinzen waren noch immer unabhängig, im Grunde hatte Sesostris nur die Kontrolle über das Nildelta, die Gegend um Memphis und den Norden von Oberägypten. Wenn er also den Befehl zu solchen Reisen gab, dann um genau zu erfahren, wie viel Vermögen vorhanden war, das er brauchte, um seine Macht zu festigen.
Oder blieben etwa noch Zweifel an Sesostris’ eigentlichem Ziel? Er wollte die aufständischen Provinzen angreifen, ihre Fürsten beseitigen und über das ganze Land herrschen!
Wenn er in Senânkhs
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