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Der Baum des Lebens

Der Baum des Lebens

Titel: Der Baum des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jacq
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einen behauenen Stein. Der Ritualist goss ihm ein wenig von diesem Wasser über die Hände. So gereinigt, säuberte der Kahle nun seinerseits den Diener des ka, der der Büste des verstorbenen Oberpriesters Milch, Wein, Brot und Datteln anbot.
    Der Träger der goldenen Palette war am Vorabend mumifiziert und bestattet worden und gehörte nun zum Kreis der gerechten Vorfahren. Die Bruderschaft wusste, dass er sie nicht verlassen würde, wenn sie das Gedenken an ihn feierten.
    Der Diener des ka brachte ein Weihrauchfass in Form eines Armes und hob den Deckel des Sarges, damit der Duft des Weihrauchs bis ins Paradies gelangen konnte, wo sich die Wiederauferstandenen von den köstlichsten Düften ernährten. Dann hob er den vorderen Huf des Stiers, einer Alabasterfigur, die die siegreichen Mächte darstellte. Daraufhin zählten die Priesterinnen mit lauter Stimme die Speisen auf, die auf dem Opfertisch standen, und gaben dem Vorfahren Stoffbänder. Die Zeremonie ging mit dem Verlesen von Sprüchen zur Umwandlung in Licht zu Ende, die es der Seele ermöglichen sollten, durch alle Welten zu reisen.
    Unter den fünf ständigen Priestern, die die Spitze der Hierarchie von Abydos bildeten, hatte sich ein einziger nicht auf das Ritual konzentrieren können. Er hatte nicht an den Verstorbenen, sondern an sich selbst und seine unausweichliche Beförderung gedacht, die ihm nun sicher zu sein schien. Der Posten des Trägers der goldenen Palette und des Oberpriesters konnte niemand anderem als ihm verliehen werden. Da er sein falsches Spiel bis zur Vollkommenheit beherrschte, war keinem aufgefallen, dass er in Gedanken gar nicht bei dem Greis war, dessen Hinscheiden ihn kein bisschen betrübte. Endlich war der Platz für ihn frei!
    Die anderen Würdenträger brachten ihm wegen seines strengen Wesens so viel Achtung entgegen und bewunderten ihn so für sein Wissen, dass er ohne irgendwelche Einsprüche designiert werden würde. Wie sollte er sich dann als Oberhaupt der berühmtesten initiierten Gemeinschaft Ägyptens verhalten? Merkwürdigerweise hatte er darüber noch gar nicht nachgedacht! Entscheidend war, dass er diesen Posten des Oberhaupts mit all den dazugehörigen Vorteilen bekam.
    »Der Meister der großen Mysterien ist eingetroffen«, teilte die junge Priesterin mit.
    Dieser unerwartete Besucher störte den zukünftigen Oberpriester durchaus nicht. Die mächtige Persönlichkeit wollte an der feierlichen Zeremonie der Osiris-Mysterien teilnehmen, wohnte aber nicht in Abydos. Was die Wahl des Nachfolgers für den Oberpriester anging, verließ sich der Meister bestimmt auf die Meinung der ständigen Priester.
    Pharao Sesostris verharrte lange nachdenklich vor dem Sarkophag des Verstorbenen. Er verlas die Auferstehungssprüche aus den Pyramidentexten , den Schriften der Sarkophage und dem geheimen Ritual von Abydos. Dann rief er die fünf Priester und die sieben Priesterinnen im Tempel zusammen.
    »Ich muss wohl nicht erwähnen, wie wichtig eure Rolle ist. Zu normalen Zeiten ist sie schon von großer Bedeutung; unter den gegebenen Umständen wird sie lebensnotwendig. Ich bin gezwungen, zahlreiche Kämpfe auszutragen, und meine Kraft beruht auf den Ritualen, die ihr hier feiert, um Osiris und seine Akazie am Leben zu erhalten. Solltet ihr scheitern, geht das Pharaonentum unter – und mit ihm die Zwei Länder. Fremdherrschaft, Bestechlichkeit, Verbohrtheit und Gewalt kommen an die Macht. Die Verbindung zwischen Himmel und Erde wird zerstört, die Götter verlassen dieses Land und vielleicht sogar die Welt der Menschen überhaupt. Ihr seid nur wenige, die in diesem Geheimnis, durch dieses Geheimnis und für dieses Geheimnis leben. Eure Aufgabe ist es, dieses Geheimnis vor den Angriffen des Bösen, der Erbärmlichkeit und den ätzenden Tränen einer Menschheit zu bewahren, die nur ihre eigene Armseligkeit beweint. Wir können nicht sicher sein, dass wir als Sieger aus diesem schrecklichen Kampf hervorgehen, in den wir uns gestürzt haben, aber wir kämpfen bis zum bitteren Ende und ohne das kleinste Zugeständnis an den Feind. Maat möge unsere Richtschnur sein, sie soll uns führen und beschützen.«
    Die Worte des Pharaos bestürzten den zukünftigen Oberpriester schon, aber er wartete viel zu sehr auf die für ihn wesentliche Entscheidung, als dass er sich wirklich darum gekümmert hätte.
    »Der Priester, der die goldene Palette getragen und diese Bruderschaft auf meinen Befehl hin geleitet hat, ist ein aufrechter Mann

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