Der Baum des Lebens
ich keine Federfuchser. Was ich brauche, sind Landarbeiter.«
»Ich fürchte, dazu tauge ich nicht!«
»Du hast die Wahl: Entweder bezahlst du deine Schulden, indem du für mich arbeitest, oder du verbringst einige Jahre im Gefängnis. Unser Provinzfürst kann nämlich Betrüger überhaupt nicht leiden. Ich würde dich zusammen mit mehreren Bauern unter der Anleitung und Aufsicht eines Vorarbeiters beschäftigen. Du bekommst ein kleines Häuschen und ein Stück Land, wo du Gemüse anbauen kannst. Aber ehe ich mein großzügiges Angebot wahrmache, will ich erst die Wahrheit wissen. Wer bist du wirklich und warum hat man dich halb totgeschlagen?«
Weil Iker nicht wusste, ob das nicht nur eine neue Falle war und dieser Bauer nicht vielleicht aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie der Dorfvorsteher von Medamud, äußerte er sich nur sehr vorsichtig.
»Ich habe Euch doch schon gesagt, dass ich ein Schreiberlehrling bin und aus der Gegend von Theben stamme. Ich hatte vor, öffentlicher Schreiber zu werden, von Dorf zu Dorf zu ziehen und den Opfern der Verwaltung beim Verfassen ihrer Beschwerdebriefe zu helfen. Der Mann, der mich verprügelt hat, hat mir mein Schreibwerkzeug gestohlen.«
Der Landwirt schien überzeugt. »Dann arbeite jetzt erst mal deine Schulden ab. Wenn dir die Arbeit gefällt, kannst du bleiben. Wenn nicht, gehst du eben wieder.«
Der Vorarbeiter war etwas freundlicher als sein Herr, schonte aber den Neuankömmling auch nicht. Zunächst musste Iker den Hof fegen und dann den Hühnerhof reinigen, der in einem überdachten Portikus mit Holzsäulen in Form von Lotosbündeln untergebracht war. Dort wurden Graugänse mit weißem Kopf, Wachteln, Enten und Hühner gehalten. Der Mann, der für das Futter zuständig war, brachte große Körbe voller Getreide, mit denen er die Futtertröge füllte. Außerdem hatte das Federvieh einen Teich, der über einen Bach mit frischem Wasser gespeist wurde.
Schon nach drei Tagen sah sich Iker gezwungen, gegen gewisse Missstände einzuschreiten.
»Ich fürchte, hier stimmt etwas nicht«, sagte er zu dem Futterlieferanten, einem unrasierten langen Kerl.
»Wieso, was soll denn nicht stimmen?«
»Am ersten Tag hast du sechs Körbe ausgeleert. Am zweiten Tag waren es nur fünf. Und heute ist viel weniger drin.«
»Na und, was kümmert’s dich?«
»Ich bin für diesen Hühnerhof zuständig und ich will, dass die Tiere richtig gefüttert werden«, sagte Iker.
»Ein bisschen mehr oder weniger, was macht das schon aus… Möchtest du den Unterschied mit mir teilen?«
»Nein, ich möchte, dass du jeden Tag sechs gut gefüllte Körbe bringst.«
Der Lieferant sah ein, dass mit Iker nicht zu spaßen war und es keinen Sinn hatte, weiter mit ihm zu verhandeln.
»Du erzählst es aber nicht unserem Herrn?«, fragte er Iker besorgt.
»Wenn du dein Verhalten änderst – natürlich nicht.«
Damit hatte sich Iker keinen Freund gemacht, aber zumindest das Federvieh bekundete ihm lautstark seine Zuneigung.
»Bist du zufrieden mit deiner neuen Arbeit?«, fragte ihn Kleine Blume, als er gerade eine schöne Gans streichelte, die er fast handzahm gemacht hatte.
»Ich mache das Beste daraus.«
»Und du hast keine Schmerzen mehr?«
»Nein, dank deiner Pflege bin ich wieder ganz gesund. Du hast mir das Leben gerettet, und dafür werde ich dir immer dankbar sein.«
»Du warst ja noch nicht ganz tot, außerdem hat die Göttin Hathor dafür gesorgt, dass du nicht sterben musstest. Ich habe nur deine Heilung unterstützt.« Kleine Blume machte eine ärgerliche Miene. »Mein Vater hat mir verboten, dich zu treffen.«
»Warum denn, ist er unzufrieden mit mir?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Aber du verwirrst ihn, weil du so anders bist. Er will, dass ich einen richtigen Bauern heirate, ihm gesunde, schöne Kinder schenke und dass wir uns gemeinsam um den Hof kümmern.«
»Zum Glück hast du einen anständigen und mutigen Vater, auf den du hören solltest.«
»Du redest ja wie ein alter Mann! Sag mal, Iker, willst du nicht doch ein richtiger Bauer werden?«
»Ich habe hier noch viel abzuarbeiten, aber mein richtiger Beruf ist der des Schreibers«, entgegnete Iker.
»Ich muss jetzt gehen. Wenn uns mein Vater erwischt, schlägt er mich«, sagte Kleine Blume und verschwand.
»So einen gut geführten Hühnerhof habe ich noch nie gesehen, mein Junge«, lobte ihn der Landwirt. »Ich hab es gern, wenn jemand seine Arbeit mit ganzem Herzen macht. Aber du scheinst nicht
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