Der Baum des Lebens
viel mit deinen Kameraden zu unternehmen, hab ich Recht?«
»Das stimmt, ich bin lieber allein mit den Tieren!«
»Na ja, das kommt schon noch! Bald gibt es viel Gerste zu mähen, und du wirst lernen, wie man mit einer Sichel umgeht.«
Iker dachte nicht einmal im Traum an Widerspruch.
Immer wieder stellte er sich die gleichen Fragen und wusste, dass er die Antworten hier nicht finden konnte. Wenn er auf seinem Weg weiter wollte, musste er erst einmal seine Schulden abbezahlen, also so viel wie möglich arbeiten, um sich möglichst schnell freizukaufen.
Iker wurde einer Gruppe ungehobelter, erfahrener Erntearbeiter zugeteilt, die den Neuling amüsiert unter die Lupe nahmen.
»Hab nur keine Angst, du könntest dich überarbeiten, Bürschchen«, sagte einer von ihnen. »Die Felder sind groß! Das Jahr war bestens, und es gibt reiche Ernte, es fehlt uns an nichts, und das Lammfleisch schmeckt besser denn je. Aber du musst es dir erst verdienen. Also streng dich an und halte uns nicht auf. Ich hab noch keinen gesehen, der an zu viel Arbeit gestorben ist.«
Schon bald war Ikers Gesicht sonnengebräunt. Und es gab auch etwas, was ihn bei Laune hielt: die Musik eines Flötenspielers. Er variierte den Rhythmus, ließ aber alle seine Melodien mit Tiefe ausklingen.
»Dein Gesicht ist ganz geschwollen«, sagte einer der Kameraden zu Iker. »Wahrscheinlich hast du den Kopf zu lange nach unten gehalten. Geh zum Flötenspieler, er hat eine Erfrischung für dich.«
Iker fühlte sich gar nicht wohl und gehorchte gern.
Er erfrischte sich Hals und Gesicht mit kühlem Wasser, trank auch ein paar Schlucke, und schon war Iker wieder munter.
»Das ist harte Arbeit«, gab der Musiker zu. »Deshalb spiele ich für eure kas. Damit es deinen Kameraden und dir nicht an Kraft mangelt.«
»Was ist denn ein ka?«, fragte Iker.
»Der ka lässt uns geboren werden, leben und überleben. Osiris hat die Musik erfunden, damit ihre Harmonie unser Herz erfreut. Sie feiert den Augenblick der Ernte von Gerste und Weizen, diesem heiligen Akt, der ihre Seele offenbart – Osiris selbst.«
Gierig verschlang Iker die Worte des Musikers. »Woher weißt du das alles?«, fragte er ihn.
»Das habe ich im größten Tempel unserer Provinz gelernt. Der Musikmeister dort hat mir das Flötenspielen beigebracht, so wie ich es meinem Nachfolger beibringen werde. Ohne die Flöte und ohne ihren Zauber wäre die Ernte weiter nichts als eine erschöpfende Arbeit, und Osiris’ Seele würde das reife Getreide verlassen.«
»Osiris… Ist er das Geheimnis des Lebens?«
»An die Arbeit, Iker!«, befahl der Vorarbeiter.
Der Flötenspieler begann wieder zu spielen.
Und Iker schwang wieder die Sichel, aber jetzt hatte er den Eindruck, dass ihm dabei jede Bewegung Kraft gab, anstatt ihn zu erschöpfen.
War es vielleicht das, war ka die Energie, die einer gut gemachten Arbeit entsprang?
12
Im Gegensatz zu den anderen Erntearbeitern hatte Iker die undankbare Aufgabe bekommen, die liegen gebliebenen Ähren aufzusammeln. Iker schnürte sie zu Bündeln und steckte sie in Säcke, die ihm ein Jugendlicher brachte.
»Müssen wir uns hier noch lange abrackern?«, jammerte dieser. »Das reicht doch längst für unser Dorf!«
»Es gibt noch andere Dörfer«, ermahnte ihn Iker. »Und nicht überall fällt die Ernte so reich aus. Deshalb dürfen wir nicht nur an uns denken.«
Der Junge sah ihn misstrauisch an. »Bist du etwa für den Herrn?«, fragte er.
»Ich bin für gute Arbeit«, entgegnete Iker.
Der Bauernjunge zuckte die Schultern und holte einen neuen Sack.
»Mittagspause!«, rief der Vorarbeiter.
Im Schatten eines Schilfdachs waren verschiedene Speisen auf einer Matte angerichtet: warme Gemüsekuchen, goldbraun gebackenes Weißbrot, in Öl gebratener Knoblauch, salziger Joghurt aus Ziegenmilch mit Kräutern, Dickmilch, Dörrfisch, eingelegtes Rindfleisch, Feigen, Granatäpfel und kühles Bier.
Iker war dem Verhungern nahe, aber der lange Kerl erlaubte ihm nicht, sich zu den anderen zu setzen.
»Wir haben keinen Platz für dich. Geh zu den anderen.«
»Aber das hier ist doch meine Gruppe! Die anderen kenne ich ja gar nicht.«
»Kann sein, aber wir wollen dich hier nicht. Spitzel können wir nämlich überhaupt nicht leiden.«
»Ich bin doch kein Spitzel!«
»Ich hab den anderen erzählt, dass du mich beim Herrn verpfiffen hast, weil ich nicht genug Getreide für den Hühnerhof gebracht habe.«
»Das ist eine Lüge, ich bin kein
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