Der Baum des Lebens
Spitzel!«, wehrte sich Iker.
»Sonst sonderst du dich ja auch immer von uns ab, also bleib dabei. Stör uns nicht beim Essen, sonst kriegst du eine Tracht Prügel.«
Iker hatte keine Lust, sich zu schlagen.
»Hier hast du Wasser und ein Stück Brot«, sagte der lange Lulatsch voller Häme. »Und sieh zu, dass dein Arbeitseifer nach diesem Festessen nicht nachlässt. Sonst müssen wir dich beim Herrn verpfeifen.«
Der Ausgestoßene verzog sich und verschlang die wenigen Bissen Brot, die ihm nicht genug Kraft geben würden, damit er seine Arbeit fortsetzen konnte.
Angstschreie rissen ihn plötzlich aus seinen Gedanken.
Eine Königskobra hatte ihr Versteck verlassen und richtete sich mitten zwischen den Essern auf.
Alle waren aufgesprungen.
»Treibt sie zu Iker!«, kreischte der lange Kerl.
Die Landarbeiter stampften mit den Füßen, warfen Erde nach der Schlange und erreichten so ihr Ziel.
Iker hatte sich nicht gerührt.
Die Augen dieser Kobra waren viel größer als üblich, ihre Schuppen glänzten golden und sie bewegte sich mit faszinierender Geschmeidigkeit.
Iker war wie hypnotisiert und dachte an die Schlange auf der Insel des ka.
»Das ist die Erntegöttin!«, rief einer der Bauern. »Wir müssen sie in Ruhe lassen und dürfen ihr auf keinen Fall etwas tun, sonst verdirbt die ganze Ernte.«
Iker kniete sich hin und legte sein letztes Stückchen Brot vor der weiblichen Kobra auf den Boden. Dann hob er seine Hände zum Zeichen der Anbetung.
Kein einziger Ton war mehr zu hören.
Den jungen Mann und die Schlange trennten kaum drei Schritte voneinander. Beide waren zu Statuen erstarrt, aber die Schlange musste jeden Augenblick zuschlagen. Die Zeit schien still zu stehen. Und dann geschah das Wunder – wie zu Osiris’ Zeiten, als die Dornen nicht stachen und die wilden Tiere nicht bissen. Das Reptil gab sich mit der Opfergeste zufrieden und verschwand in einem Feld nebenan. Ein besseres Vorzeichen für eine gute und reichliche Ernte konnte man sich nicht vorstellen.
»Die anderen Jungs und ich, wir wollen uns bei dir entschuldigen«, sagte der lange Kerl verlegen. »Wir konnten ja nicht wissen, dass du unter dem Schutz der Göttin stehst. Wir hoffen, du nimmst es uns nicht allzu übel und setzt dich zu uns zum Essen. Außerdem wäre es am besten, wenn du jetzt unser Anführer wirst. Dann sind auch wir geschützt.«
Iker hatte einen Bärenhunger und ließ sich nicht lange bitten.
»Als unser Anführer hast du das Recht, die Esel zur Tenne zu führen«, sagte der Vorarbeiter zu Iker. »Lade die Säcke leise ab, stör das Ritual nicht und stell keine Fragen.«
»Dann gibt es also eine Zeremonie?«
»Du sollst keine Fragen stellen.«
Mit fünf Eseln im Schlepptau, die den Weg besser kannten als er, machte sich Iker auf den Weg zu einer Tenne in der Nähe einer provisorischen Scheune aus Stroh. Hier blieben die Vierbeiner ganz von allein stehen, ohne dass Iker seinen Stock gebraucht hätte.
Zwei Schreiber notierten die Anzahl der Säcke. Ein Teil der Ernte war für die Bauern und ihre Familien bestimmt, der andere gehörte der Provinzbäckerei. Als die Schreiber ihre Arbeit getan hatten, entfernten sie sich wieder.
Zurück blieben nur mehr neun Anführer, sieben Getreide-Sieberinnen und drei Ritualisten, zu denen auch der Flötenspieler gehörte.
»Die Tenne scheint rechteckig zu sein, in Wahrheit ist sie aber rund«, erklärte er. »Darin verbirgt sich die Hieroglyphe, die ›zum ersten Mal‹ bedeutet, den Augenblick, in dem sich die Schöpfung offenbart. Der Erntegöttin sei Ehre erwiesen.«
Zwei der Männer bauten einen kleinen Holzaltar auf und stellten Gefäße mit Milch, Brot und Kuchen darauf.
»Wir haben lautstark geklagt, als unser guter Hirte Osiris begraben wurde«, fuhr der Flötenspieler fort. »Das Korn war in der Erde vergraben, und wir dachten, es wäre für immer tot. Als es dann eine überreiche Ernte gab, durften wir uns freuen! Weizen und Gerste wachsen auf Osiris’ Rücken, er trägt die ganze Last der Schätze der Natur, wird dessen nicht müde und beklagt sich nie. Die Anführer sollen den Inhalt der Säcke auf die Dreschtenne leeren.«
Iker war so glücklich darüber, an dem Ritual teilnehmen zu dürfen, dass er gar nicht spürte, wie schwer er trug.
»Holt jetzt die Esel«, befahl der Flötenspieler. »Lasst sie im Kreis gehen.«
»Schickt sie weg«, widersprach ein anderer Ritualist, »sie sollen meinen Vater nicht treten! Seths Esel dürfen das Korn des
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