Der Baum des Lebens
Abend ausgiebig gegrillten Fisch schlemmen.
Obwohl sie größte Lust dazu hatten, verbot der Prophet Shab dem Krummen und Schiefmaul, die wenigen Fischerdörfer zu plündern, an denen sie vorbeikamen.
»Sonst halten wir nicht mehr lang durch«, beharrte Schiefmaul.
»Die Beute wäre lächerlich, und wir dürfen keine Spuren hinterlassen. Unser Angriff auf Hathors Reich war nur der Anfang. Bald schlagen wir richtig zu.«
»Dürften wir erfahren, wohin es geht?«
»Hinter die Mauern des Herrschers. Deshalb müssen wir so extrem vorsichtig sein und uns auf Gelände vorwärts bewegen, das als unpassierbar gilt.«
»Ihr wollt aber doch wohl nicht etwa die ägyptischen Grenzfestungen stürmen?«
Jeder hatte bereits von der Befestigungsanlage gehört, die Sesostris I. gebaut hatte, um die Nordostgrenze seines Reiches zu sichern und jeden Versuch eines Einmarsches abzuwehren. Die vielen einzelnen Wach- und Kontrollposten konnten sich untereinander über Lichtzeichen verständigen und wurden von Bogenschützen unterstützt, die den Befehl hatten, auf jeden zu schießen, der sich gewaltsam Zugang verschaffen wollte.
»Dafür ist es noch zu früh«, gab der Prophet zu. »Aber unsere Zeit wird kommen. Die Mauern des Herrschers wiegen Ägypten in dem trügerischen Gefühl von Sicherheit.«
»Mag sein«, entgegnete Shab der Krumme, »aber sie werden von echten Soldaten bewacht und…«
»Hör nicht auf, mir zu vertrauen, dann wird alles gut. Unser nächstes Ziel: unentdeckt hinter die Grenze gelangen. Wenn wir das geschafft haben, nehmen wir Kontakt zu unseren neuen Verbündeten auf.«
»Von wem sprecht Ihr, Herr?«
»Von den Asiaten und Beduinen, die sehr beengt in Kanaa leben und von der ägyptischen Verwaltung unterdrückt werden. Weil man sie andauernd erniedrigt, haben sie keinen anderen Gedanken als den an einen Aufstand, befürchten aber, dass er blutig niedergeschlagen würde. Sie brauchen nur noch einen Anführer wie mich, den Propheten, um endlich loszuschlagen.«
Shab der Krumme war begeistert. Und selbst wenn Schiefmaul seinen Herrn für verrückt erklärte, traute er ihm doch zu, er könne eine schöne Serie von Plünderungen anzetteln, durch die seine Männer reich würden. Dazu mussten sie aber erst einmal die Mauern des Herrschers überwinden, ohne sich ertappen zu lassen – und das hielt der Überlebende der Kupferminen für unmöglich.
Darin täuschte sich Schiefmaul jedoch.
Der Prophet ließ sich viel Zeit und schickte mehrere Späher aus, um die Stelle auszumachen, an der die Grenze am wenigsten bewacht wurde. Als sie gefunden war, beobachtete er einige Tage lang die Bewegungen der ägyptischen Soldaten und Zollbeamten genau. Mitten in einer mondlosen Nacht weckte er dann seine Getreuen und befahl ihnen, ihm zu folgen.
Ohne ein Geräusch schlichen sie sich an der Rückseite einer Grenzfestung vorbei, die zu diesem Zeitpunkt unbewacht war.
»Das ist schon ein Kerl, unser Anführer«, gab Schiefmaul anerkennend zu.
»Wenn man einen wie ihn gefunden hat, lässt man ihn am besten nicht wieder gehen«, stimmte ihm Shab der Krumme zu.
»Was die Beute angeht, ist er aber ziemlich wählerisch, oder?«
»Das ist ihm egal. Was hältst du davon, wenn wir, als seine unmittelbaren Stellvertreter, das Meiste für uns beide nehmen, und nur den Rest verteilen?«
»Das passt mir gut. Jedem Querkopf breche ich sofort die Knochen, sozusagen als abschreckendes Beispiel! Aber, sag mal… Was will unser Herr eigentlich?«
»Er ist besessen. Er will die Herrschaft der vollkommenen und einzigen Wahrheit, die nur er kennt und der er die gesamte Menschheit unterwerfen will. Für ihn gibt es nur zwei Möglichkeiten – Unterwerfung oder Tod. Und sein Erzfeind ist der Pharao, weil er seine Glaubenslehre ablehnt.«
»Du bist ja ganz schön schlau, Shab!«
»Schließlich muss ich ihm die ganze Zeit zuhören, und wiederhole nur, was er sagt.«
»Mir ist das alles egal! Hauptsache, er ist ein guter Führer und verbreitet seinen neuen Glauben mit Blut und Schwert. Je mehr Ägypter wir umbringen können, umso reicher werden wir.«
Sobald der Prophet auf die ersten Asiaten mit ihren Viehherden traf, zeigte er sich ihnen als entschiedener Gegner von Sesostris, und die Clanführer schenkten ihm sofort ihre Aufmerksamkeit. Er unterwarf sich ihren Sitten und machte bei den endlosen Palavern mit, die zu nichts führten, bekam aber, was er wollte: ein Gespräch mit ihrem Oberpriester, einem alten, blinden Beduinen
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