Der Baum des Lebens
der Lage sind.«
Iker entwickelte einen immer ausgeklügelteren Rhythmus und dachte beim Laufen die ganze Zeit an das schöne Gesicht, das ihn aus der Königin der Türkise angeblickt hatte. Natürlich musste er aus diesem erstaunlichen Zeichen neue Zuversicht schöpfen. Ja, er würde sie wiederfinden, diese Frau, und auch die Männer, die ihn zum Tod verurteilt hatten.
Als er im allerletzten Augenblick die Silexsplitter sah, die auf dem Weg verstreut waren, warf er sich instinktiv zur Seite, stürzte einen Abhang hinunter und landete äußerst unsanft am Stamm einer Tamariske. Er wurde zwar ohnmächtig, hatte aber das Schlimmste noch verhindern können – Schnittwunden an den Füßen hätten ihn für lange Zeit außer Gefecht gesetzt.
Als er wieder zu sich kam, holte er langsam den Abstand auf, der ihn von dem Führenden trennte, einem Mitschüler, der ihn nicht leiden konnte und immer bei seinen Kameraden anschwärzte.
Als Iker an ihm vorbeizog, versuchte der andere, ihn mit einem Schulterstoß aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber Iker konnte ihm ausweichen.
»Die Sache mit dem Silex sage ich unserem Lehrer nicht. Das regeln wir unter uns, wenn wir wieder in der Kaserne sind«, sagte er zu ihm.
»Die Nubier sind die besten Stockkämpfer«, erklärte ihnen ihr Lehrer. »Bei einem von ihnen habe ich die Vorgehensweise gelernt, die ich euch jetzt zeigen werde. Ihr sollt sie bei einem Kampf anwenden, bei dem ihr richtig zuschlagen müsst. Dazu brauche ich zwei Freiwillige.«
»Ich«, meldete sich Iker, weil er ahnte, wie sein Gegner mit den Silexsplittern sich verhalten würde.
Und er hatte richtig geraten – der andere stürzte sich geradezu auf die Gelegenheit.
Die beiden Männer waren etwa gleich groß und gleich stark, also setzte Iker wie üblich auf seine Schnelligkeit. Er ließ den anderen herumtoben und gab ihm das Gefühl, er hätte Angst vor seinen Angriffen. So zwang er ihn dazu, sich in wirkungslosen Attacken zu verausgaben.
Iker schlug mit seinem harten Stock nur ein einziges Mal zu und traf den anderen mitten auf die Stirn.
Der fiel wie ein nasser Sack in sich zusammen.
Der Lehrer untersuchte ihn und meinte: »Wenn er aufwacht, dürfte er ziemliches Kopfweh haben.«
»Ich hätte noch fester zuschlagen sollen.«
»Also, Iker, ich erkenne dich ja gar nicht wieder.«
»Ich kann Feiglinge nicht ausstehen.«
Der Lehrer warf seinem Schüler einen fragenden Blick zu. »Gibt es da noch irgendetwas, was ich wissen sollte?«
»Nein, die Sache ist erledigt.«
»So mag ich es, Iker. Was sich zwischen euch Soldaten abspielt, geht mich nichts an, solange ihr euch an unsere Regeln haltet und mutig seid. Jetzt musst du nur noch springen lernen.«
Am Anfang war das Seil, das zwischen zwei Pfosten gespannt war, nicht hoch. Mit der Zeit aber rückte es so weit nach oben, dass es unüberwindlich zu sein schien. Und man brauchte ebenso viel Geschick wie Willenskraft, um sich an dieses Hindernis zu gewöhnen und sich nicht davor zu sträuben. Iker erwies sich als Bester in dieser Disziplin.
Eine hübsche, etwa vierzig Jahre alte Frau trat zu ihrem Lehrer.
»Techat! Was habt Ihr denn Schönes für uns?«
»Käse und Gemüse. Sag mal, wie heißt denn dieser junge Mann?«
»Iker.«
»Ist er aus unserer Provinz?«
»Nein, aber er ist ein herausragender Rekrut. Aus ihm mache ich bestimmt einen guten Offizier.«
Die Geschäftsfrau und Schatzmeisterin der Provinz lächelte vielsagend. Ihrer Meinung nach hatte Iker Besseres verdient.
25
Als der erste Stein für den Tempel gesetzt war – Sesostris hatte die Stelle zur Feier der Grundsteinlegung persönlich festgelegt –, wurde ein Zweig der Akazie wieder grün.
Unglücklicherweise tat es ihm aber kein anderer nach. Trotzdem gab es neue Hoffnung, und der eingeschlagene Weg erwies sich als richtig: Ein neuer Tempel und eine neue ewige Ruhestätte mussten gebaut werden, um gegen die finsteren Mächte anzukämpfen, die das Reich des Osiris bedrohten.
Sesostris selbst hatte die Güte der Baumaterialien geprüft und sich mit jedem einzelnen Handwerker unterhalten. Es musste zwar so schnell wie möglich gebaut werden, aber nicht auf Kosten von Sicherheit und Schönheit.
Seit die Baustelle eingerichtet worden war, hatten sich auch die neuen Ritualisten an die Arbeit gemacht, die der Träger der Goldenen Palette ernannt hatte.
Der kahlköpfige Priester hütete die heiligen Archive vom Haus des Lebens, die keiner ohne seine Zustimmung einsehen
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