Der Baum des Lebens
konnte. Derjenige, der über die Unversehrtheit des Leichnams von Osiris wachte, war nicht weniger aufmerksam und überprüfte mehrmals täglich die Siegel an der Tür zum göttlichen Grab. Und der Ritualist, der die Geheimnisse sehen durfte, feierte im Namen des Pharaos jeden Tag die Riten in Gegenwart des Palettenträgers. Dank der Magie des Wortes wurde die Verbindung zum Reich des Unsichtbaren aufrechterhalten. Durch die Verehrung der Vorfahren und der Lichtwesen trug der Diener des ka wesentlich zu seiner Stärkung bei; und der, der jeden Tag frisches Wasser als Trankopfer über die Opfertische goss, aktivierte so die in der Materie verborgenen, alles durchdringenden Substanzen, damit die Gottheiten sich davon ernährten und Abydos beschützten.
Jedem von ihnen war bewusst, wie wichtig seine Aufgabe war. Sie, die ständigen Priester, betreuten die Arbeit der vorübergehenden, die von den Wachen streng kontrolliert wurden. Sie wurden alle ausführlich befragt und ihre Aussagen anschließend überprüft. Ließe sich ein vorübergehender Priester auch nur den kleinsten Fehler zuschulden kommen, würde er aus dem Reich von Osiris verbannt. Der Ernst der Lage duldete keine laxen Sitten. Genauso streng wurden auch die sieben musizierenden Priesterinnen unterschiedlicher Abstammung behandelt, unter denen sich beispielsweise eine ranghohe Persönlichkeit vom Hofe und ein Bauernmädchen befanden. Eine der Priesterinnen war so schön und so andächtig, dass sogar der alte Träger der Palette ihrem Zauber erlag. Wer wäre nicht gern der Vater dieser strahlenden jungen Frau gewesen, deren Anblick einem Freude und Hoffnung schenkte? Mit Sicherheit würde sie eines Tages in die großen Mysterien eingeweiht und müsste nicht mehr bei weltlichen Festen die Rolle einer Opferträgerin spielen. Aber um in den Rang eines ständigen Ritualisten erhoben zu werden, und das noch in Abydos, musste man alle Stufen der Hierarchie kennen gelernt und alle Phasen durchlaufen haben, die in den geschlossenen Tempel führten. Das war seit Anbeginn der Zeit so festgelegt, und so würde es auch bleiben.
Weil der alte Priester sich hingebungsvoll seiner Aufgabe widmete, beseligt war von der Mission, die ihm der Pharao anvertraut hatte, und entschlossen, den Kampf gegen die finsteren Mächte wenn nötig bis zu seinem Tod zu führen, entging ihm eine unerwartet drohende Gefahr.
Einer der ständigen Priester, ein langer, hagerer Mann mit einem unangenehmen Gesicht und einer großen Nase, haderte mit seinem Los. Er galt als völlig vergeistigtes Wesen – ein falscher Schein, den er selbst aufgebaut hatte, damit sein wahrer Charakter nicht bekannt wurde: Denn er war machtgierig, und zwar sehnte er sich nicht nach der öffentlichen Macht eines Königs, der tausenderlei Zwängen ausgesetzt war, sondern nach der geheimen Macht, die im Verborgenen ausgeübt wurde.
Im Laufe der Jahre hatte er erkannt, wie wichtig Abydos und die Mysterien des Osiris waren. Das ganze Pharaonentum hing davon ab. Und dieses Reich wollte er beherrschen, weil es die Geheimnisse über Leben und Tod hütete.
Er kam aus einer Schule für Geometer und Mathematiker, war von eiskalter Berechnung und hatte sich vorgestellt, er würde den Ältesten beerben und Oberpriester werden. Dann aber hatte Sesostris mit seiner Neuausrichtung des Konvents seine Pläne zunichte gemacht. Zu seiner großen Enttäuschung vertraute ihm der Träger der Palette nur eine Aufgabe an, die er für untergeordnet hielt und weit entfernt von dem, was er sich erhofft hatte. Zwar gehörte er zur Spitze der Hierarchie, aber das war ihm längst nicht genug.
Dieser verfluchte Sesostris war schuld an seiner Enttäuschung und an seinem Groll, die Tag für Tag größer wurden. Aber wie konnte er ihn loswerden und erreichen, was ihm zustand?
Für die Truppe des Propheten, die mittlerweile mehr als zweihundert Mann stark war, hatte die Durchquerung der Sümpfe wegen der feuchten Hitze und der ständigen Attacken der Insekten eine echte Herausforderung dargestellt. Zwei Männer waren an den Folgen von Schlangenbissen gestorben, einen dritten hatte ein Krokodil mitgenommen. Doch das änderte alles nichts an der Entschlossenheit ihres Anführers, der keine Sekunde zögerte, welchen Weg sie einzuschlagen hatten.
Immer wieder mussten sie einen Schilfwald passieren, der zur Hälfte unter Wasser stand, und durch Schlamm waten. Auf diese Weise gingen sie den Soldaten von Sesostris aus dem Weg und konnten jeden
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