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Der Baum des Lebens

Der Baum des Lebens

Titel: Der Baum des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jacq
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immer geahnt; aber General Sepi setzte es so treffsicher in Worte um, dass sich ihm auf einmal viele Türen und Wege öffneten.
    »Ihr werdet nicht zu eurem eigenen Ruhm Schreiber«, erläuterte ihr Lehrer, »sondern um Thots Werk fortzusetzen. Er hat den Himmel vermessen, die Sterne gezählt, die Zeit, die Jahre, die Jahreszeiten und die Monate bestimmt. In seiner Faust wohnt der Lebenshauch, seine Elle ist das Maß aller Dinge. Er ist niemals Opfer der Unordnung oder Unregelmäßigkeit, weshalb er auch den Plan der Tempel festlegt. Thots Lehre besteht nicht in vergeblichen Überlegungen, denn zu viel Wissen schadet nur. Über seine Worte lernt ihr, wie man ein Bauwerk errichtet, die Nahrungsmittel gerecht verteilt oder ein Feld bestellt. Oben ist nicht anders als unten, und unten ist so wie oben, und der über alles erhabene Thot wird euch lehren, dass ihr Himmel und Erde nicht trennen dürft.«
    »Dann sollen wir also nur fertige Grundsätze abschreiben!«, warf ein Schüler ein. »Ist das nicht ein Eingeständnis unserer Unfähigkeit?«
    »Wenn du stärker sein willst, werde ein Künstler der Worte«, antwortete Sepi. »Die wahre Kunst liegt im Ausdruck, denn richtig eingesetzte Worte sind wirkungsvoller als jede Waffe. Manche Schreiber schreiben tatsächlich nur ab, aber dafür muss man sie nicht gering achten. Anderen – und sie sind sehr selten – gelingt es, schöpferisch tätig zu werden.«
    »Welche Fähigkeiten werden von diesen verlangt?«, wollte Iker jetzt wissen.
    »Sie müssen hören und zuhören können und ihre Leidenschaft beherrschen. Davon seid ihr, du und deine Kameraden, noch weit entfernt! Nehmt nun eure Schreibtafeln und Binsen. Ich werde euch jetzt das Buch Kemit diktieren, danach korrigieren wir gemeinsam eure Fehler. Weiß jemand, was kemit bedeutet?«
    »Kemit ist abgeleitet vom Wortstamm kem und bedeutet entweder ›schwarze Erde‹, also die durch den Nilschlamm fruchtbar gemachte Erde Ägyptens, oder ›was vollendet ist‹«, erklärte Iker.
    »Und beide Bedeutungen müssen berücksichtigt werden«, fügte Sepi hinzu. »Dieses Buch ist ein umfassendes Lehrbuch für angehende Schreiber und will ihren Geist befruchten. Legt euer Schreibwerkzeug zurecht.«
    Iker füllte zwei Muscheln mit Wasser, in dem er seine Tintenstücke auflöste.
    Dann diktierte ihnen der Lehrer die einzelnen Kapitel des Kemit.
    Am Anfang wurde dem Meister langes Leben, Beständigkeit und ewige Entfaltung gewünscht. Danach wurde die Notwendigkeit der »gerechten Auffassung« gegenüber den Göttern und Seelen von Heliopolis, der heiligen Stadt des Re, abgehandelt. Month, den Stiergott der Provinz Theben, bat man um seine kraftvolle Unterstützung; Ptah um Lebensfreude und ein hohes Alter.
    »Möge dich das Schreiben glücklich machen«, wurde den Schreibern selbst gewünscht, »vorausgesetzt, ihr hört auf euren Meister, ehrt die Älteren, seid nicht geschwätzig, dafür aber bei allem sehr genau, und lest alle notwendigen Schriften, damit ihr wisst, welche Einsicht bringen.«
    Ein Satz schreckte Iker auf: »Möge Punts Wohlgeruch den guten Schreiber retten.« Beinahe wäre er dadurch ganz aus dem Rhythmus gekommen.
    Nach zwei Stunden größter Aufmerksamkeit und Anstrengung waren die Schreiber erschöpft. Einige hatten Krämpfe in den Händen, andere Rückenschmerzen.
    General Sepi ging langsam durch die Reihen.
    »Das ist ja jämmerlich«, sagte er schließlich. »Keinem von euch ist es gelungen, alles richtig aufzuschreiben, was ich gelesen habe. Euer Verstand ist unschlüssig, und eure Finger sind viel zu zögerlich. Morgen früh machen wir weiter. Wer dann noch zu viele Fehler macht, muss zu einer anderen Schule wechseln.«
    Iker räumte seine Sachen auf, ohne sich dabei zu beeilen. Als die anderen das Zimmer verlassen hatten, ging er zu seinem Lehrer.
    »Darf ich Euch eine Frage stellen?«
    »Ja, aber wirklich nur eine, ich bin in Eile.«
    »Das Buch erwähnt einen ›Wohlgeruch aus Punt‹. Aber Punt gibt es doch gar nicht, oder?«
    »Was meinst du dazu?«
    »Wieso sollte ein zukünftiger Schreiber so etwas abschreiben? Und warum sollte ihn der Wohlgeruch aus einem Land retten, das es gar nicht gibt?«
    »Ich sagte eine Frage, Iker. Geh jetzt zu den anderen.«
    Er wurde nicht gerade herzlich von ihnen empfangen. Sie stammten alle aus dem Hasengau, und die Anwesenheit dieses Fremden in der Klasse von General Sepi störte die meisten von ihnen.
    Ein kleiner Dunkelhaariger mit angriffslustigen Augen

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