Der Baum des Lebens
Nilschwemme hätte löschen können.
Techats Empfehlungsschreiben war voll des Lobes für Iker.
»Unter den gegenwärtigen Umständen brauche ich eher Soldaten als Schreiber«, erklärte Djehuti.
»Ich bin aber hierher gekommen, um Schreiber zu werden, Herr. Wo könnte ich diesen Beruf besser erlernen als in der Provinz des Thot?«
»Woher dieser Ehrgeiz?«
»Weil ich überzeugt bin, dass sich das Geheimnis des Lebens in den Worten des Wissens verbirgt. Deshalb kann ich nur über ein gründliches Erlernen der Hieroglyphen Zugang dazu finden.«
»Findest du nicht, dass du etwas anmaßend bist?«
»Ich bin bereit, Tag und Nacht zu arbeiten.«
»Das kannst du von mir aus sofort unter Beweis stellen. Mein Verwalter wird sich um dich kümmern. Du kannst bei den Schreiberlehrlingen wohnen. Und verhalte dich ja unauffällig, ich hasse Unruhestifter. Wenn dein Lehrer nicht mit dir zufrieden sein sollte, wirst du augenblicklich aus meinem Reich verjagt.«
Iker ließ die beiden allein.
»Stur, mutig, unabhängig… Du hattest Recht, Sepi. Dieser Junge ist wirklich ungewöhnlich.«
»Jetzt habt Ihr also auch gesehen, dass er nicht nur sehr willensstark ist.«
»Glaubst du, dass er für den Tempeldienst geeignet ist?«, wollte Djehuti wissen.
»Soll er sich erst einmal bewähren.«
33
Techat war auf den Zornausbruch von Chnum-Hotep vorbereitet und ließ ihn gelassen über sich ergehen.
»Wie konntet Ihr diesem Jungen nur erlauben wegzugehen?«
»Warum nicht, was ist denn so Besonderes an ihm, Herr?«
»Wir haben ihn zu einem ausgezeichneten Soldaten ausgebildet, und ich brauche gute Männer, um mir meine Unabhängigkeit zu bewahren.«
»Ich weiß, aber Iker wollte nun einmal Schreiber werden.«
»Es sind nicht die Schreiber, die gegen Sesostris’ Soldaten kämpfen werden!«
»Allein hätte er auch nicht siegen können.«
Chnum-Hotep machte ein mürrisches Gesicht und warf sich herausfordernd in die Brust. »Zum letzten Mal: Ich will wissen, warum Ihr ihm erlaubt habt zu gehen.«
»Weil ich den Eindruck hatte, dass er für seinen zukünftigen Beruf sehr begabt ist und hier bei uns keine entsprechende Ausbildung machen könnte. Die Provinz des Gottes Thot bietet ihm dagegen das, was er sucht. Wart Ihr es nicht selbst, Herr, der ihm erklärt hat, dass Ihr keine neuen Schreiber braucht?«
»Mag sein, mag sein… Aber hier treffe ich die Entscheidungen, niemand sonst!«
Techat lächelte. »Wenn ich mich nicht um die unteren Ränge kümmern würde, Herr, wärt Ihr völlig überarbeitet. Außerdem wisst Ihr genauso gut wie ich, dass Iker dem Ruf seines Schicksals folgen musste.«
»Und woher wusstet Ihr, dass ihn dieses Schicksal in den Hasengau führt?«
»Das war reine Eingebung.«
»Dieser Junge ist wirklich ungewöhnlich. Man hat den Eindruck, er lässt sich durch nichts von seinen Plänen abbringen. Ich hätte ihn gern näher kennen gelernt.«
»Wer weiß, vielleicht sehen wir ihn ja eines Tages wieder.«
Nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem sich Iker abseits gehalten hatte, versammelten sich die Schreiberlehrlinge in einem Raum und setzten sich auf ihre Matten.
Als der Lehrer kam, war Iker enttäuscht und verärgert – es war General Sepi! Der Fürst des Hasengaus hatte ihn also betrogen und in eine Kaserne geschickt, in der Soldaten ausgebildet wurden.
Iker stand auf.
»Entschuldigt, bitte, aber ich habe hier nichts verloren.«
»Willst du denn nicht Schreiber werden?«, fragte ihn General Sepi.
»Doch, das möchte ich.«
»Dann setz dich wieder hin.«
»Aber Ihr seid ein General und…«
»… Leiter der bedeutendsten Schreiberschule im Hasengau. Meine Schüler müssen mir aufs Wort gehorchen oder ihr Glück anderswo suchen. Wer unter meiner Anweisung arbeiten will, muss streng mit sich sein. Ich erwarte Pünktlichkeit und ein tadelloses Auftreten. Wer sich auch nur die kleinste Nachlässigkeit erlaubt, wird der Schule verwiesen. Nun wollen wir erst einmal unserem göttlichen Meister, Thot, und dem Urahn aller Schreiber, Imhotep, die Ehre erweisen.«
Sepi hängte ein Bleilot an den mittleren Deckenbalken im Klassenzimmer.
»Schaut es euch genau an, meine Schüler, denn es ist das Symbol für Thot, der wie ein Felsen im Mittelpunkt des Gleichgewichts steht. Er verjagt das Böse, wägt die Worte ab, schenkt dem Wissenden Frieden und bringt wieder zum Vorschein, was in Vergessenheit geraten ist.«
Aus einem mit Seide ausgelegten Papyruskorb holte General Sepi
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