Der Baum des Lebens
eröffnete die Feindseligkeiten: »Woher kommst du eigentlich?«
»Ich bin hier, nur darauf kommt es an«, entgegnete Iker.
»Wer hat dich empfohlen?«
»Was spielt das für eine Rolle? Hier muss jeder seine Fähigkeiten beweisen. Wenn es darauf ankommt, ist jeder für sich allein.«
»Wenn du das so siehst – du wirst noch viel mehr allein sein als alle anderen!«
Die Lehrlinge ließen Iker stehen und warfen ihm hasserfüllte Blicke zu. Nur zu gern hätten sie ihm eine ordentliche Tracht Prügel verpasst, um ihm eine Lektion zu erteilen, aber dafür hätte sie General Sepi hart bestraft.
Iker aß abseits von den anderen und las immer wieder seine Abschrift vom Buch des kemit durch. Das Wort »Punt« ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wusste, dass dieses geheimnisvolle Land daran schuld war, dass er beinahe gestorben wäre.
34
»Nehmt euer Schreibwerkzeug zur Hand«, befahl General Sepi barsch.
Und da entdeckte Iker, was geschehen war: Jemand hatte seine Schreibtafel mit einer anderen vertauscht, die schon so abgenutzt war, dass sie nicht mehr zu gebrauchen war. Seine Schreibrohre und Pinsel hatte man zerbrochen. Seine Tintentäfelchen waren so hart wie Kieselsteine und taugten nichts mehr.
Iker stand auf und meldete sich zu Wort. »Jemand hat mein Werkzeug beschädigt.«
Belustigte und befriedigte Blicke richteten sich auf ihn.
»Kennst du den Schuldigen?«, fragte Sepi.
»Ja, ich kenne ihn.«
Ein Raunen ging durch die Reihen der Schreiberlehrlinge.
»Eine derartige Anklage ist ein schwerwiegender Akt«, mahnte ihn Sepi. »Bist du dir ganz sicher?«
»Ja.«
»Dann sag uns seinen Namen.«
»Der Schuldige bin ich. Ich war so einfältig zu glauben, dass niemand zu so einer gemeinen Tat fähig sei. Jetzt weiß ich, wie dumm das von mir war, aber nun ist es bereits zu spät.«
Gesenkten Kopfes und schweren Schrittes ging Iker unter den spöttischen Blicken der Sieger zur Tür.
»Es ist nie zu spät, einen Fehler einzusehen«, sagte der General. »Hier ist ein Beutel mit dem vollständigen Werkzeug eines ausgebildeten Schreibers. Ich schenke ihn dir, Iker. Aber wenn du noch einmal unachtsam sein solltest, brauchst du nicht mehr hierher zu kommen.«
Der Lehrling nahm das kostbare Geschenk ehrfürchtig entgegen. Vergeblich suchte er nach Worten, um seiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen.
»Setz dich wieder an deinen Platz und sieh zu, dass du möglichst schnell bereit bist«, verlangte der Lehrer.
Iker vergaß seine Feinde und betrachtete die schönen, neuen Sachen, die ihm der General gerade geschenkt hatte. Ohne zu zittern, gelang es ihm, eine sehr schöne schwarze Tinte zu mischen.
»Schreibt jetzt folgende Sinnsprüche des weisen Ptah-Hotep nieder«, sagte der Lehrer.
Du sollst dir nichts einbilden auf das, was du weißt. Lass dich von Unwissenden genauso beraten wie von Gelehrten, denn man erreicht nie die Grenzen seiner Kunst, und es gibt keinen Künstler, der vollkommen wäre. Das vollkommene Wort ist so selten wie ein grüner Stein. Manchmal findet man es bei den Dienerinnen, die am Mühlstein arbeiten.
(Ptah-Hotep, Sinnspruch I)
Der Text war schwierig, und es gab jede Menge Gelegenheit, Fehler zu machen, aber Ikers Hand bewegte sich geschickt und zielstrebig. Er konzentrierte sich auf jedes einzelne Wort, behielt dabei aber immer den Sinn des ganzen Satzes vor Augen.
Als Sepi schwieg, verspürte Iker keine Ermüdung. Er hätte gern noch lange so weitergeschrieben.
Der General nahm die Schreibtafeln in Augenschein. Alle hielten gebannt den Atem an.
»Die Hälfte von euch ist für den Unterricht bei mir ungeeignet. Sie werden ihre Ausbildung bei anderen Lehrern fortsetzen. Die Übrigen müssen noch große Fortschritte machen, und ich werde sicher nicht alle behalten. Ein einziger Schüler hat nur zwei Fehler gemacht: Iker. Deshalb ist er in Zukunft für Sauberkeit und Ordnung im Klassenzimmer zuständig, das er jeden Tag putzen muss. Ich gebe ihm den Schlüssel.«
Die anderen Schüler waren mit dieser Entscheidung nicht unzufrieden. Wurde der Fremde dadurch etwa nicht gedemütigt? Sie hätten sich niemals mit derart niedrigen Arbeiten für Bedienstete abgegeben. Iker dagegen empfand diesen Auftrag als Ehre. Und er war auch sehr zufrieden darüber, das Inventar über die Schreibtafeln führen zu dürfen. Natürlich erledigte er diese Aufgabe gewohnt eifrig.
Was für ein Glück, mit diesen Schreibwerkzeugen umgehen zu dürfen! Je nach Materialbeschaffenheit
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