Der Baum des Lebens
seinem Lehnsessel thronte, und vergingen fast vor Ungeduld.
»Können wir jetzt endlich mit dir reden?«, fragte die Älteste.
»Einen Augenblick noch, ich muss erst diesen Bericht fertig lesen.«
Und dann ließ sich der Provinzfürst viel Zeit, um den langen Papyrus wieder aufzurollen.
»Was gibt es denn, meine Süßen?«, fragte er schließlich.
»Man hat uns beleidigt, Vater, und wir wollen das höchste Gericht anrufen!«
»Sprichst du etwa von der Göttin Maat?«
»Nein, ich meine dich! Verabscheuungswürdige Dinge wurden soeben auf deinem Gebiet begangen, und der Schuldige wird nicht bestraft.«
Djehuti schien sehr betroffen. »Das ist allerdings wirklich ernst. Wisst ihr mehr darüber?«
Jetzt redete die Jüngste wild drauflos. »Der Schreiber Iker hat Dattelschnaps gestohlen und sich damit betrunken. Das ist ein ehrloses und unbeschreibliches Benehmen! Und heute Morgen haben wir gesehen, dass dieser Gauner wieder General Sepis Schule betrat, als wäre nichts geschehen! Da musst du unbedingt sofort einschreiten, Vater, und diesen Iker aus unserem Land jagen.«
Djehuti sah seine Töchter in einer Mischung aus Ernst und Spott an. »Seid unbesorgt, meine Lieben, ich habe diese Angelegenheit bereits geklärt.«
»Wie… Was soll das heißen?«
»Dieser unglückliche junge Mann wurde Opfer eines bösen Streichs. Aber er steht unter dem besonderen Schutz von Anubis, der uns in der Gestalt eines Chamäleons erschien und uns so klar machte, dass Iker sehr wohl die Wahrheit sagt.«
»Hat er jemand beschuldigt?«, fragte die Älteste ängstlich.
»Nein, was ebenfalls beweist, wie großzügig er ist. Du und deine Schwestern, habt ihr vielleicht einen Verdacht?«
»Wir? Wie sollten wir… Nein, natürlich nicht!«
»Das dachte ich mir. Ihr sollt jedenfalls wissen, dass ich glaube, Iker wird einmal ein hochrangiger Schreiber, und dass ich keinerlei Angriffe gegen ihn dulde. Wer auch immer dafür verantwortlich sein sollte, ich werde ihn streng bestrafen. Haben wir uns verstanden, meine Süßen?«
Djehutis Töchter nickten zustimmend und verließen den Sitzungssaal, den gerade ein kleiner, magerer Mann mit einer ledernen Tasche betrat, die für ihn viel zu schwer zu sein schien.
»Ah, Gua, endlich! Ich warte schon die ganze Zeit auf Euren ärztlichen Beistand.«
»Ihr seid der Herr dieser Provinz«, gab der Arzt in gewohnt spitzem Ton zurück, »aber nicht der Einzige, den ich verarzten muss. Vor lauter rheumatischen Anfällen, Ohrenentzündungen und Geschwüren weiß ich schon gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Man könnte fast meinen, alle Kranken hätten sich für heute Morgen verabredet! Meine jungen Mitstreiter sollten etwas fähiger werden und dürften sich ein bisschen mehr für ihre Arbeit einsetzen! Was soll’s… Was haben wir denn heute für ein Leiden?«
»Meine Verdauung, und…«
»Das kann ich bald nicht mehr hören. Ihr esst zu viel, Ihr trinkt zu viel, Ihr arbeitet zu viel und Ihr schlaft zu wenig. Und das bei Eurem Alter, das Ihr nicht wahrhaben wollt. Gegenüber so viel Starrsinn ist die ärztliche Kunst machtlos. Und dass Ihr Eure schlechten Gewohnheiten ändert, darauf darf ich wohl nicht hoffen. Ihr seid mein schlimmster Fall, dennoch bin ich als Arzt dazu verpflichtet, Euch zu behandeln.«
Jede Beratung begann mit den gleichen tadelnden Worten. Aber Djehuti hütete sich, Gua zu unterbrechen, weil sich seine Behandlung noch immer als äußerst wirksam erwiesen hatte.
Aus seiner Tasche holte der Arzt jetzt ein Gefäß in Gestalt eines Menschen, der mit einem Bein auf dem Boden kniete und mit der linken Hand einen Krug stützte, den er auf der Schulter trug. Auf der Figur waren in der Handschrift Guas die Worte zu lesen: »Ich bin da, um dich zu unterstützen.«
»Das hier ist ein Abführmittel aus Bierhefe, Rizinusöl und vier anderen Bestandteilen, die Ihr nicht wissen müsst. Wenn Ihr das nehmt, lässt Euch Euer Magen in Frieden, Ihr vergesst Euer Verdauungssystem und bildet Euch ein, Ihr wäret vollkommen gesund. Das ist zwar ein verhängnisvoller Irrtum, aber was soll ich machen? Wir sehen uns übermorgen wieder.«
Gua war fleißig wie eine Ameise und machte sich eilends auf den Weg zu seinem nächsten Kranken.
Und nun war General Sepi mit einer Besprechung beim Landesfürsten an der Reihe.
»Was macht Eure Gesundheit, mein Herr?«
»Es gibt Schlimmeres, aber ich glaube doch, es ist höchste Zeit, mich zu erholen.«
»Meine Ritualisten sind zur Stelle«, erklärte
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