Der Baum des Lebens
Aufgaben und unerfüllbare Aufträge für einen jungen Mann, der auf sich allein gestellt war und kein Geld hatte… Nein, nicht für Iker. Keine Frage – Zweifel und Verzweiflung versuchten ein ums andere Mal, ihn zum Aufgeben zu zwingen. Und dann musste er sich allein gegen diese Anfechtungen behaupten und seinen Weg gehen, auch wenn es gar keinen gab.
Die Prüfungen und Schwierigkeiten machten ihn nur noch entschlossener. Sollte er sich als unfähig erweisen, sie zu überwinden, wäre das der Beweis für seine Unbrauchbarkeit. Das hieße, sein Leben wäre nutzlos.
»Der Schreiber Iker soll im Palast des Fürsten vorsprechen«, verkündete die Stimme eines Herolds.
Iker zog sich eilends an, suchte sein Schreibwerkzeug zusammen und packte es in eine der Taschen, die Nordwind inzwischen mühelos tragen konnte.
Djehuti hatte es sich bereits in einem seiner Tragesessel bequem gemacht. »Dann gehen wir jetzt!«, befahl er.
Iker hatte damit gerechnet, einer Gruppe von Schreibern zugeteilt zu werden, die ihrem Meister folgten, um seine Bemerkungen niederzuschreiben.
Aber er war ganz allein, und einen Augenblick lang überfiel ihn Panik. Wie sollte denn er, ein Anfänger, mehrere Fachkräfte ersetzen können? Nachdem man ihm keine Wahl ließ, musste er sich wohl oder übel damit abfinden.
Djehuti ließ sich an dem Kanal entlangtragen, der quer durch seine Provinz führte, begutachtete die Sumpf- und Grasflächen, die dem Wild vorbehalten waren, und durchquerte dann einen Teil des Ackerlandes, wo er Bauern, Gärtnern, Weinbauern und Hirten begegnete. Anschließend besuchte er Töpfer, Zimmerleute und Weber in ihren Werkstätten und unterhielt sich mit Bäckern und Brauern, denen er riet, auf die Güte ihrer Produkte zu achten, die in den vergangenen Wochen nachgelassen hatte.
Djehutis Energie war erstaunlich. Er kannte jeden seiner Untertanen und fand immer das passende Wort. Und nicht einen Augenblick lang zeigte der Provinzfürst auch nur das geringste Anzeichen von Müdigkeit.
Sein Schreiber bewies, dass er der Lage gewachsen war, auch wenn ihm die Hand wehtat von den vielen Gesprächen, die er mitschreiben musste.
Schließlich ließ sich Djehuti wieder in seinen Palast bringen und gönnte sich zur Erfrischung leichtes Bier, das er auch Iker anbot, während er bereits dessen Arbeit prüfte.
»Du machst dich nicht schlecht«, fand er. »Ich möchte, dass du mir einen Bericht verfasst, anhand dessen ich überprüfen kann, ob meine Änderungsvorschläge auch wirklich angenommen werden. Die Bedeutung von Gesprächen darf nicht unterschätzt werden, aber letztlich zählen nur die Taten.«
»Ist ein Ritual eine Tat?«
»Das ist sogar die oberste Tat überhaupt, weil es in die Gegenwart holt, was die Götter seit Anbeginn der Zeit vollbringen.«
»Und was Euch gestern Abend geschehen ist, Herr…«
»Das war eine Art Wiederbelebung, die für einen Mann in meinem Alter und mit der Last einer großen Verantwortung unerlässlich ist. Bist du dir der Reichtümer dieser Provinz bewusst? Und dass man alle Kraft daransetzen muss, sie zu erhalten? Hier murrt keiner über diese Aufgabe. Und wenn doch einer versucht zu betrügen, brauche ich nicht lange, um ihn zu finden. Und dieses schöne Gleichgewicht will ein einzelner Mann zerstören: Pharao Sesostris. Er ist unser Feind, Iker.«
Iker war verwirrt. Mit Sicherheit hatte sich der Fürst sehr genau überlegt, was er zu ihm sagen wollte… Versuchte er ihm auf diese Weise zu verstehen zu geben, wer seinen Tod gewollt hatte?
Djehuti konnte mehr als zufrieden sein über seine blühende, ertragreiche Landwirtschaft, aber das Fehlen jeglicher Nachrichten vom Hof in Memphis bereitete ihm größte Sorgen. Bewies dies nicht, dass ihn der König für einen Befürworter des Aufstands in Sichern hielt? Sollte das der Fall sein, müsste er seinen Falkenstab nehmen und die anderen Gaufürsten zu einem Bündnis bewegen, um den unausbleiblichen Angriff des Pharaos abwehren zu können.
General Sepi war anderer Meinung. Er hielt nichts von diesem Zweckbündnis, das seiner Ansicht nach nur in einer schmählichen Niederlage enden konnte. Besser wäre es, direkt mit Sesostris zu verhandeln und zu versuchen, ihn von Djehutis Standpunkt zu überzeugen.
Der zögerte aber noch. Und diese Ausflüchte, die sonst gar nicht seine Art waren, machten ihn reizbar.
Ein schwarzer Ibis setzte sich nicht weit weg von Iker hin und starrte Djehuti an. Dann machte er ein paar Schritte, ehe er wieder
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