Der Baum des Lebens
Sepi. »Und das Wasser von Abydos steht zu Eurer Verfügung.«
»Du wirst jemanden brauchen, der dich unterstützt: Warum nicht Iker?«
Der General schien sich nicht sicher. »Ist das nicht ein wenig früh?«
»Ist es je zu früh, ein Wesen zu formen, dessen Weg die Götter vorgezeichnet haben?«
»Ich hätte wirklich gern mehr Zeit, um ihn vorzubereiten, ihn…«
»Wenn er wirklich der ist, für den wir ihn halten«, unterbrach ihn Djehuti, »wird ihn das Erlebnis dieses Rituals nur umso mehr vorantreiben und belehren. Sollten wir uns getäuscht haben, ist er eben einer mehr aus der Reihe von Großsprechern, die sich die Zähne an ihrem Selbstbetrug ausbeißen.«
Sepi hätte seinen besten Schüler gern besser beschützt, aber er konnte sich nur fügen.
Jeder in Ikers Gruppe wusste, dass der Fremde der beste Schüler in der Klasse war und der zweitbeste erst lange nach ihm kam. Er verstand nicht nur die schwierigsten Texte scheinbar mühelos, sondern konnte auch noch sämtliche Aufgaben ohne irgendwelche Schwierigkeiten bewältigen. Außerdem hatte ihm General Sepi gerade die Überarbeitung eines Schriftstücks anvertraut, in dem es um die Landvermessung nach dem Rückgang der Nilschwemme ging.
Mit anderen Worten – Iker war zum offiziellen Schreiber des Hasengaus bestellt worden, und es würde nicht mehr lange dauern, bis er die Schule verließ, um seine erste Stellung anzutreten.
Nach seinem Missgeschick versäumte Iker es nicht, den Koch vor jedem Essen auszufragen. Da dieser wusste, dass er für einen erneuten Zwischenfall verantwortlich gemacht würde, kostete er jedes Gericht vor.
»Heute Abend isst du später«, teilte ihm Sepi mit. »Ist dein Schreibwerkzeug bereit?«
»Ich trage es immer bei mir.«
»Gut, dann folge mir.«
Iker spürte, dass er jetzt keine Fragen stellen durfte. Der General wirkte so gesammelt wie ein Soldat, der sich gleich in einen Kampf mit ungewissem Ausgang stürzt.
Am Ostufer des Nils lagen auf einer kleinen Anhöhe die Gräber für die Fürsten des Hasengaus. Auf der einen Seite beherrschten sie den Fluss, auf der anderen Seite die Wüste, wo sich ein kurviger Pfad seinen Weg zwischen zwei steilen Felswänden bahnte.
Im Lichtschein zahlreicher Fackeln und bewacht von zwei Soldaten wirkte die ewige Ruhestätte für Djehuti sehr beeindruckend mit ihrer von zwei Säulenreihen mit Kapitellen in Form von Palmblättern gestützten Bogenhalle, ihrer großen rechteckigen Grabkammer und der kleinen Kapelle am Ende.
Iker blieb auf der Schwelle stehen.
»Ich befahl dir, mir zu folgen«, erinnerte ihn Sepi.
Voller Angst und zögernden Schritts betrat der junge Mann das Grab.
Djehuti stand aufrecht vor der Kapelle am Ende. In einen altertümlichen einfachen Schurz gehüllt, wirkte er viel größer und breiter als sonst.
Mit einem Mal wurde es etwas heller.
Zwei Ritualisten mit Gefäßen in der Hand stellten sich rechts und links neben den Fürsten. Als Letztes wurde die Lampe angezündet, die General Sepi in der Hand hielt.
»Sprich diese Sätze«, verlangte er von Iker, »durch deine Stimme sollen sie wirklich werden.«
Der junge Schreiber las den Papyrus mit der schönen goldenen Farbe.
»Möge das Wasser des Lebens den Meister reinigen, ihm neue Energie verleihen und sein Herz beleben.«
Die beiden Ritualisten hoben ihre Gefäße über Djehutis Kopf.
Iker hatte gemeint, sie würden Wasser ausgießen, wurde aber von gleißendem Licht geblendet, das sich aus ihnen über den Körper des alten Mannes ergoss.
Iker musste die Augen schließen und glaubte zunächst, er hätte sich das alles nur eingebildet. Doch dann zwang er sich, die Augen wieder zu öffnen, auch wenn er davon blind werden sollte.
Djehuti war nun in sanftes Licht gehüllt und schien um Jahre verjüngt.
»Du wolltest doch den Goldenen Kreis von Abydos kennen lernen«, sagte General Sepi, »jetzt hast du gesehen, wozu er da ist.«
38
Iker hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht.
Diese seltsame Zeremonie hatte sich ihm in allen Einzelheiten eingeprägt, und vergebens bemühte er sich, die Bedeutung der ungewöhnlichen Worte zu entschlüsseln, die General Sepi zu ihm gesagt hatte.
Natürlich musste er die Spur derer finden, die ihn hatten töten wollen, und erfahren, warum sie das getan hatten; aber er musste auch das Geheimnis des Goldenen Kreises von Abydos herausbekommen und die schöne Priesterin Wiedersehen, die er jeden Tag mehr liebte.
Zu viele schwierige
Weitere Kostenlose Bücher