Der Beethoven-Fluch
über die Tradition der Wiener Kaffeehäuser. Nach ihrem Gefühl tat er das nur, um sie auf andere Gedanken zu bringen. “Der Wiener hat sein Stammcafé, entweder in der Nähe der Wohnung oder des Arbeitsplatzes. Der Besuch eines Kaffeehauses gehört zum Alltag. Es wird gleichsam erwartet, dass man stundenlang bei einer einzigen Melange und einem Stück Topfenstrudel sitzt.”
Sebastian hielt ihr die Tür auf, und kaum betrat Meer das Café Hawelka, da wurde sie auch schon von der dufterfüllten Atmosphäre eingehüllt. Das Innere glich einer Szene aus einem anderen Jahrhundert. Schwarzbefrackte Kellner mit weißen Schürzen eilten mit Silbertabletts einher und spiegelten sich unendlich in den riesigen Wandspiegeln, die die engen Räumlichkeiten größer erscheinen ließen. Die schweren, rostbraunen Vorhänge mit den bis auf halbe Höhe reichenden Spitzengardinen darunter verliehen dem Künstlercafé einen gleichzeitig intimen und barocken Anstrich.
Nachdem sie an einem Marmortischchen Platz genommen hatten, ließ Meer den Blick forschend über die rötlich-braune Decke und die vom Zigarettenqualm verdunkelten Wände schweifen. Der Anblick erzeugte in ihr eine Wehmut nach einer Zeit, die sie nie erlebt hatte.
“Was darf ich Ihnen bestellen?”, fragte Sebastian.
“Einen Espresso.”
“Nichts zu essen? Na, aber Frau Hawelkas legendäre hausgemachte Buchteln, die sollten Sie unbedingt probieren! Selbst gemacht! Köstliche kleine Hefeknödel mit Marmeladenfüllung. Etwas zu sich nehmen müssen Sie doch ohnehin!”
“Sie benehmen sich haargenau wie mein Vater!”
Sebastian lächelte und nickte einem der Kellner zu. Der kam auch gleich beflissen herüber und nahm in aller Form die Bestellung auf.
“Der ist ja richtig formvollendet!”, staunte sie, nachdem der Ober sich entfernt hatte.
“Das sind die Kellner hier alle”, erklärte Sebastian. “Sie durchlaufen eine mehrjährige Ausbildung und werden in Wiener Kaffeehäusern danach mit ‘Herr Ober’ angesprochen. Sie müssen sage und schreibe siebenundzwanzig verschiedene Handbewegungen beherrschen, um ein Tablett korrekt mit dem bestellten Kaffee, einem Glas Wasser, Zuckerdose, Milchkännchen, Serviette und so weiter zu füllen.”
Meer befühlte den plüschigen Samtbezug ihres Stuhls. “Wie alt ist denn dieses Café?”
“Auf der Rückseite der Speisekarte steht normalerweise eine kleine geschichtliche Übersicht und eine Liste mit berühmten Persönlichkeiten, die hier Stammgäste waren oder sind.” Er nahm die Karte vom Tisch und las Meer laut vor: “An dieser Adresse gibt es seit den 1780er-Jahren ein Café.”
Während er noch weiterlas, kam der Ober mit den Kaffees, dem üblichen Glas Wasser sowie den Buchteln und servierte die Bestellung nach allen Regeln der Kunst. Sebastian bedankte sich und las dann weiter vor. Meer nippte an ihrem Espresso, probierte die gebackenen Köstlichkeiten und hörte ihrem Begleiter zu und verfolgte gleichzeitig, wie die Gäste sich unterhielten und wie die Kellner sich nahezu mit der Eleganz von Balletttänzern durch die Räumlichkeiten bewegten. Gesprächsfetzen in einer ihr eigentlich unbekannten Sprache flogen hin und her, doch statt sich als Fremde in einem ihr unbekannten Land zu fühlen, kam Meer dies alles sonderbar behaglich und vertraut vor.
“Irgendwie zeitlos, dies alles”, sagte sie, als Sebastian endete. “Nicht nur das Café, sondern ganz Wien.”
“Ich bin beruflich viel unterwegs”, erwiderte er. “Und dieses Zeitlose ist etwas ganz Besonderes an dieser Stadt. Liegt vielleicht an der Liebe zur Musik, zum Theater, zur Kunst und Philosophie. Die sind hier so lebendig geblieben wie in keiner anderen Metropole.”
“Wenn man Ihnen so zuhört, kommt man sich vor, als wäre man wieder in der Schule.”
Sebastian zog die Braue hoch. “Kompliment oder Kritik?”
“Kompliment”, betonte sie ein wenig verlegen. Was war es bloß, das sie an ihm so verwirrte? “Sie erwähnten eben, Sie seien geschäftlich viel unterwegs. Was machen Sie denn beruflich?”, fragte sie, um auf ein etwas neutraleres Thema zu kommen.
“Ich bin erster Oboist bei den Wiener Philharmonikern.”
Ein Musiker?
Ehe sie reagieren konnte, sprach Sebastian exakt das aus, was sie dachte.
“Ihr Vater hat mir erzählt, dass Sie früher Klavier gespielt haben und eigentlich Komposition studieren wollten. Sie hätten aber schon seit Jahren keine einzige Note mehr zu Papier gebracht.”
“Gibt es überhaupt irgendetwas,
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