Der Beethoven-Fluch
zurückholt.”
“Die Macht der Musik …”
“Ist Ihnen denn an Nicolas etwas aufgefallen, das so ähnlich ist wie Ihre Erlebnisse?”
“Ich war nicht so weg.”
“Ihr Vater vermutet, er hat etwas, das Malachai Samuels als
Vorlebensbruch
bezeichnet.”
Meer nickte. “Zu viele Erinnerungen auf einmal überfluten das Gehirn und überfordern es.”
“Und Sie glauben, bei Ihnen war das auch so?”
“Nein”, schüttelte sie den Kopf. “Bei mir war es ein spärliches Rinnsal von Pseudoerinnerungen.”
“Ihr Vater hat mich per E-Mail mit Samuels bekannt gemacht. Seitdem habe ich ein oder zwei Mal mit ihm telefoniert. Ich hätte ihm den Flug hierher bezahlt, damit er Nicolas behandelt, aber er sagte, er hätte momentan Schwierigkeiten mit einer Ausreiseerlaubnis.”
“Jetzt aber nicht mehr. Er trifft sogar morgen hier in Wien ein, zu der Auktion am Mittwoch. Vielleicht können Sie Ihre Frau überreden, ein letztes Mal einen Außenstehenden hinzuzuziehen.”
Sie waren an einen kleinen, von hohen Tannen umstandenen Teich gelangt. Es roch nach Harz; bläuliche Schatten fielen über das Wasser. Sebastian hob einen Tannenzapfen auf und schleuderte ihn mit überraschender Heftigkeit in den Teich, wo er mit einem lauten Klatschen aufschlug. Der Aufprall verursachte kleine, kreisrunde Wellen, die sich nach außen hin vergrößerten und schließlich verflachten.
“Hat er Ihnen denn geholfen?”
“Eigentlich nicht, jedenfalls nicht beim Ergründen dessen, was da vorging. Allerdings hat er mir beigebracht, wie ich mir die Attacken vom Leibe halten kann, damit sie mich nicht lähmen.”
Sie stieß gegen eine Wurzel und geriet ins Stolpern. Als Sebastian nach ihrem Arm griff, um sie zu stützen, spürte sie deutlich den Druck seiner Finger.
“Wohin gehen wir überhaupt?”, forschte sie.
“Ich dachte, da wir schon mal hier sind, könnte ich Ihnen die Kirche am Steinhof zeigen, gebaut nach den Entwürfen von Otto Wagner. Wunderschönes Jugendstil-Bauwerk, möglicherweise das einzig Sehenswerte auf diesem ganzen abscheulichen Gelände.”
Während sie ihren Weg fortsetzten, versuchte Meer, Sebastians restliche Fragen bezüglich ihrer Kindheitserlebnisse zu beantworten.
“Sie müssen doch furchtbare Angst gehabt haben”, schloss er zuletzt mit einer solch mitfühlenden Stimme, dass es ihr schmerzhaft die Kehle zuschnürte.
Um ein Haar hätte sie gesagt:
Die habe ich immer noch.
Damit aber hätte sie etwas verraten, dass sie ihm gegenüber lieber nicht zugeben wollte. Und vor sich selbst auch nicht.
27. KAPITEL
D ie Kelten sind furchtlose Krieger. Der Kernpunkt ihrer Lehre ist, dass die Seele nach dem Tod nicht untergehe, sondern von einem Körper in den anderen wandere. Da so die Angst vor dem Tod bedeutungslos wird, spornt das ihrer Meinung nach die Tapferkeit ganz besonders an …
– Julius Cäsar –
Wien, Österreich
Sonntag, 27. April – 15:00 Uhr
Sebastian stand auf dem kleinen Platz und wies auf die steinerne Treppe mit der Straße dahinter. “Das da oben ist die Mölker Bastei, Meer. Da hat Beethoven mal einige Zeit gewohnt.”
Nach dem Besuch bei seinem Sohn in gedrückter Stimmung, hatte er auf der Rückfahrt in die Stadt seine Begleiterin gefragt, ob sie immer noch Beethovens Wohnhaus sehen wolle, da sie ja tags zuvor solches Interesse daran gezeigt habe. Meer zögerte erst, weil sie seine Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen wollte. Doch er betonte, es sei für ihn eine ebenso willkommene Abwechslung wie für sie und bringe ihn auf andere Gedanken. Also stiegen sie nun die Stufen hinauf, Sebastian wieder ganz in seiner Rolle als Fremdenführer.
“Beethoven wohnte in Wien in über vierzig unterschiedlichen Wohnungen. Er musste so häufig umziehen, weil er so laut und unordentlich war und ihm deshalb andauernd gekündigt wurde. Die Gedenkstätte hier ist eine der wenigen Wohnungen, die man besichtigen kann. Ein paar andere liegen außerhalb der Stadt.”
Wie jede ernsthafte Musikstudentin verfügte auch Meer über die wesentlichen Grundkenntnisse. In Deutschland geboren, verbrachte Beethoven die überwiegende Zeit seines Lebens in Wien. Der erhebliche Hörschaden, der mit der Zeit zur Ertaubung führte, behinderte sein geniales Wirken nicht; einige seiner größten Werke komponierte er, ohne sie klar hören zu können.
Während sie so über die lange Reihe aneinander grenzender, identischer Gebäude schaute, fiel ihr Blick auf das Haus Nummer 8, an dem eine österreichische
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