Der Beethoven-Fluch
Meer Vogelgezwitscher durch das offene Seitenfenster. Für einen Moment wunderte es sie, dass den Vögeln bei Sebastians Worten nicht der Gesang in der Kehle stecken blieb.
“In einem der Pavillons führten die Ärzte entsetzliche, schmerzhafte Experimente an Kindern durch. Die Kleinen wurden dann in andere Pavillons verlegt, wo man sie einfach an Unterernährung oder Krankheiten zugrunde gehen ließ. Über siebenhundert Kinder kamen auf diese Weise ums Leben. Gehirne und Rückenmark wurden zu Forschungszwecken präpariert …” Er stockte, entweder weil er vorübergehend nicht weiterreden konnte oder nicht weiterreden wollte. Meer bedauerte es fast, als er dann doch mit seinem Vortrag fortfuhr. “Es liegt aber nicht allein an dem, was damals während des Kriegs hier passierte. Genauso schrecklich finde ich es, dass es nach Kriegsende weiterging. Ich meine nicht die Brutalität, die kalte Grausamkeit, sondern die Tatsache, dass man die Überreste jener Kinder, die Gehirne, das Rückenmark, auch andere Organe weiter in dieser Klinik benutzte und daran forschte. Bis 1978 dienten sie Forschern und Besuchern als Anschauungsobjekte. Manchmal finden sich noch in entfernten Winkeln der Pavillons oder auf dem Gelände kleine Andenken des Schreckens. Als Nicolas hier in den Schulferien tagsüber betreut wurde, da stieß ein Gärtner auf einen vergrabenen Kinderschädel. Weiß der Himmel, wie viele von den draußen spielenden Kindern das mitbekommen haben … Vor einem halben Jahr hat die Stadtverwaltung endlich dafür gesorgt, dass die letzten Überreste aus der schrecklichen Zeit eine würdige Ruhestätte fanden. Aber wer kann schon garantieren, ob nicht eines Tages ein Gärtner wieder irgendetwas ausbuddelt?”
“Ist Ihre Ehe wegen der Schwierigkeiten mit Nicolas gescheitert?”
Sebastian verneinte. “Schon zwei Jahre vorher. Ich fürchte, es ist eine schmutzige Geschichte.” Seine Stimme klang verbittert. “Rebecca hatte eine Affäre mit einem Kollegen.” Die Bitterkeit wich einem melancholischen, nachdenklichen Ton. “Das haben wir nicht durchgestanden.”
“Das tut mir leid”, sagte Meer leise. Sie bedauerte ihn tatsächlich – und ihre Frage auch.
Der neunjährige Junge hatte Sebastians honigblondes Haar und graugrüne Augen. Er saß an einem Tisch und formte wie besessen grauen Knetgummi zu einer Kugel. Dabei murmelte er in einem fort zusammenhanglose Wörter, die Meer wie ein ständiges Summen vorkamen.
Als sie eintraten, blickte er kurz von seinem Knetgummi auf und starrte Meer an, ohne sie allerdings wirklich wahrzunehmen. Was mochte er sehen? Eine ihm fremde Frau, die in einem langen schwarzen Kleid und in Stiefeln im Türrahmen stand? Oder bloß eine Krankenschwester, die ihm Medizin verabreichen wollte? Ein Gespenst? Oder gar nichts?
“Vor einem halben Jahr war er noch ein völlig normales Kind.” Sebastian sprach ganz freimütig, als könne sein Sohn ihn weder hören noch verstehen. “Er ging zur Schule, trieb Sport, konnte prima Fahrrad fahren, hatte Spielkameraden … Jetzt ist er völlig abgetaucht, lebt wie in einer undurchdringlichen Schale, summt die ganze Zeit diese Melodie vor sich hin und malt oder knetet immer dasselbe.” Er wies auf einen Stapel Zeichnungen. “Das unterbricht er nur zu den Malzeiten oder zur Schlafenszeit, also wenn jemand ihm etwas zu Essen bringt oder wenn er ins Bett geht.”
Meer erinnerte sich an die Zeit, als sie stundenlang am Piano saß und versuchte, eine ganz bestimmte Klangfolge auf den Tasten zu lokalisieren. Auch sie hatte wie besessen die verschiedensten Notensequenzen ausprobiert. Manchmal war sie darüber eingeschlafen und erst Stunden später wieder aufgewacht, weil ihr die Kante der Klaviatur in die Wange schnitt.
In Nicolas Augen lag derselbe leere Blick, den Meer früher immer an ihrem eigenen Spiegelbild wahrgenommen hatte. Sie wusste nur zu gut, wie der Junge sich fühlen musste – wie man sich fühlte, wenn man von Erinnerungen überwältigt wurde, die gar nicht die eigenen waren …
“Was haben Sie hier zu suchen?”
Beim Klang der Frauenstimme fuhr Meer herum. Die Worte waren zwar in Deutsch, aber der Ton verriet schon die Entrüstung der Sprechenden.
“Meer, darf ich Ihnen Dr. Rebecca Kutscher vorstellen? Meine geschiedene Frau.” Sebastian sprach weiter Englisch, auch zu seiner Ex. “Rebecca, das ist Meer Logan, die Tochter von Jeremy Logan.”
Rebecca war hübsch, auch wenn sie verärgert die Lippen schürzte und ihre
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