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Der Beethoven-Fluch

Der Beethoven-Fluch

Titel: Der Beethoven-Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M.J. Rose
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als wesentlich für die Niederlage des französischen Eroberers erwies, betrachtete Zar Alexander diese Wendung als neuen göttlichen Auftrag: eine “Heilige Allianz” zu schmieden. Dieser göttlichen Weisung folgend, hielt er sich hier in der österreichischen Hauptstadt auf, denn die Neugestaltung Europas war seiner Ansicht nach seine Bestimmung. Andererseits sahen die beim Kongress versammelten Staatsoberhäupter mit Sorge, wie Russland versuchte, Polen zu annektieren und die Grenze des Zarenreiches um Hunderte von Meilen westwärts auszuweiten. Die von christlicher Mystik durchsetzten Ansichten des frommen Zaren waren den anderen Mächten suspekt.
    Beide waren in Schweigen verfallen; zu hören waren nur das Zirpen der Insekten sowie vom Hause her gedämpftes Stimmengewirr, dazu vereinzelt die Klänge des Kammerorchesters. Hier im Garten war es zwar herbstlich kühl, doch Margaux verzichtete ganz bewusst auf ihren Schal, denn sie wusste, der Mondschein ließ ihre bloßen Schultern umso verführerischer schimmern. Und dass der Zar ihr selbst bei diesem philosophischen Diskurs aufs Mieder guckte, war ihr nicht entgangen.
    Schließlich unterbrach Margaux die Stille. “Ich finde es beeindruckend, Exzellenz, dass Sie so großzügig mit Ihrer Seele umgehen. Sie teilen sie mit einer Dame, welche die ihre bereits mit einem anderen Mann teilt.”
    Der Zar lachte. “Ach, Sie meinen Schilling? Den Theosophen?”
    Margaux nickte.
    “Ja, tatsächlich, nach einer Begegnung mit ihm beschloss ich, mich seiner Bewegung anzuschließen. Sie müssten einmal hören, wie eloquent er die Überlegenheit des Geistes über das Fleisch erklärt. Von uns dreien ist er derjenige, der unsere Seelenverwandtschaft am meisten bereichert. Noch eine vierte Person wäre zu nennen: Baronesse von Krüdener. Sie alle sind meine Schutzengel.”
    Das alles war Margaux bekannt. Gleichwohl tat sie erstaunt und interessiert. Die Neigung des Zaren zu religiösen, prophetisch-ekstatischen Eiferern war allgemein bekannt und wurde gemeinhin als lächerlich empfunden. “Wie ich hörte, soll Schilling ja ein Freund des deutschen Dichters Goethe sein”, bemerkte sie. “Sind Sie Goethe etwa auch schon einmal begegnet?”
    “Nein, aber ich kenne seine Werke.”
    “Wissen Sie auch, dass er an Wiedergeburt glaubt?”
    “Allerdings.”
    “Und finden Sie seine Ansichten interessant?”
    “Gewiss. Glauben Sie an ein Vorleben?”
    “Mein Gemahl glaubt daran, Exzellenz.”
    “Ach ja, richtig, der Forschungsreisende. Er gilt als in Indien verschollen, nicht wahr? Auf einer Art Schatzsuche.”
    Nun ergriff Margaux die Gelegenheit und berichtete dem Zaren von der magischen Flöte. Sie richtete ihr Sinnen und Trachten auf eine möglichst verlockende Schilderung, und der Herrscher des russischen Reichs lauschte ihr hingerissen. Keiner von beiden bemerkte den Schatten, der ganz in der Nähe über den Gartenpfad huschte.
    “Demnach befindet sich das Artefakt in Ihrem Besitz?”, fragte der Zar.
    “So ist es”, bestätigte sie. “Man ist kürzlich über einen Mittelsmann vonseiten einer begüterten Familie an mich herangetreten. Er möchte das Instrument gern käuflich für diese Familie erwerben.”
    “Dann zeigen Sie es mir bitte zuerst”, bat Zar Alexander. “Ich möchte es gern sehen, bevor Sie es jemand anderem verkaufen.”

47. KAPITEL
    W ien, Österreich
    Dienstag, 29. April – 10:58 Uhr
    Meer schnappte nach Luft, als sei sie zu lange unter Wasser gewesen. Es dauerte noch eine geschlagene Minute, bis ihr dämmerte, wo und bei wem sie sich befand und was vor dem Erinnerungssprung vorgefallen war. Jemand redete. Ihr Vater. Was hatte er da gerade gesagt? Wie lange mochte sie in diesem Tagtraum versunken gewesen sein?
Tagtraum?
Welch unpassender Begriff für die Halluzination, die sie soeben erlebt hatte! Aber es gab ja keine Vokabel für einen Albtraum, bei dem man hellwach war, oder? Oder für diese noch nachklingende Trauer um einen Mann, den sie überhaupt nicht kannte und auch nie kennenlernen würde.
    Auf sich spürte sie Malachais Blick, verständnisvoll, tröstlich – und gespannt. Ihm oder ihrem Vater in allen Details zu schildern, was sich da zugetragen hatte, oder ihnen zu sagen, dass sie inzwischen selber nicht mehr an ihre Theorie von Pseudoerinnerungen glaubte – dazu war es noch zu früh. Erst musste sie diese Bewusstseinsstörung verarbeiten. Jawohl, der Begriff stimmte schon eher: Bewusstseinsstörung. Die gewaltsame Verdrängung der

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