Der Beethoven-Fluch
Gegenwart, der unerklärliche Austausch von Menschen und Orten gegen eine Anwandlung, die sich so anfühlte, als sei es ihre eigene Erinnerung. Dabei war ihr vollkommen klar, dass dieser Zustand rein rationell keinerlei Verbindung zu ihr aufwies.
Meer konzentrierte sich auf ihren Vater. “Bitte”, sagte Jeremy gerade, “nehmt es mir nicht übel, aber ich muss euch jetzt alle rauswerfen. Setzt euch doch bei mir Zuhause zusammen und findet heraus, wozu der Schlüssel dient und wie die einzelnen Puzzleteile zusammenpassen. Derweil lasse ich mich hier nach Strich und Faden verwöhnen.”
“Ich kann dich doch nicht einfach hierlassen!”, protestierte Meer, getrieben von dem nagenden Verdacht, dass ihr Vater ihr etwas verschwieg, was seinen Gesundheitszustand betraf. “Was haben sie denn noch mit dir vor?”
“Folgender Vorschlag”, betonte Jeremy so beschwichtigend wie möglich. “Ich verrate es dir, aber dann tust du auch brav, was ich sage. Abgemacht?”
Sie musste unwillkürlich schmunzeln. Er hatte eben immer das letzte Wort. “Na gut.”
“Also: Mir geht’s zwar prima, aber ich hatte vor zehn Monaten einen leichten Herzinfarkt. Ich nehme Medikamente; es ist an sich halb so wild, doch die Ärztin meint, sie hätte heute im EKG eine kleine Unregelmäßigkeit entdeckt. Deshalb will sie sicherheitshalber noch ein paar zusätzliche Untersuchungen durchführen und gucken, ob auch wirklich alles in bester Ordnung ist. Schlimmstenfalls werden meine Medikamente neu dosiert.”
Meer musterte ihn mit bangem Blick. Er lächelte und nahm ihre Hand. War auch wirklich alles mit ihm in Ordnung? Ihre Gedanken streiften zehn Monate zurück … Hatte sie damals mit ihm geredet? Hatte sie da etwaige Anzeichen übersehen? “Fehlt dir auch wirklich nichts?” Ihre Stimme klang ein wenig brüchig.
“Nein, nein! Es geht mir gut.”
“Warum hast du mir nichts gesagt?”
“Es war ja nur ein ganz leichter Anfall. War ruck, zuck vorbei. Kaum der Rede wert.”
Sie sah hinüber zu Malachai. “Wussten Sie das?”, fragte sie.
“Ja.”
Sebastian brauchte sie gar nicht erst zu fragen. Ein Blick genügte. Vorwurfsvoll wandte sie sich wieder ihrem Vater zu. “Fremden sagst du Bescheid, aber deiner Tochter nicht?”
Sebastian stand auf, murmelte etwas von einem Telefonanruf und wandte sich zur Tür. Meer war froh, dass er ging, doch Jeremy ließ ihn noch nicht. “Unseretwegen brauchen Sie nicht zu flüchten, Sebastian.”
“Ich muss wirklich telefonieren. Ich bin gleich wieder da. Dann können Sie sich weiter zanken.”
Jeremy grinste.
Meer war nicht zum Scherzen zumute. “Das finde ich nicht lustig, Dad!”, beschwerte sie sich. “Wieso hältst du deinen Gesundheitszustand vor mir geheim?”
“Ich habe es eben so entschieden. Auf der Basis dessen, was ich für das Beste für meine Tochter hielt.”
“Ich bin erwachsen!”
“Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich immer noch selber bestimme, womit ich dich belaste und womit nicht. Ich möchte nicht, dass du dich mit meinen Gesundheitsproblemen herumschlägst und mit mir so eine Last hast wie mit deiner Mutter.”
“Ja, was hätte ich denn sonst machen sollen? Sie war unheilbar krank! Liegst du etwa im Sterben?”
“Ach, Unsinn! Das meinte ich auch nicht, das weißt du ganz genau!”
“Meinst du etwa, ich könnte die Wahrheit über deinen Gesundheitszustand nicht ertragen? Hast du kein Vertrauen zu mir?”
“Ich habe dir immer vertraut”, murmelte Jeremy mit bewegter Stimme. “Von dem Moment an, als du mit deinem Händchen meinen Finger umklammert hast.”
“Wenn das so ist – warum versuchst du dann dauernd zu bestimmen, was ich wissen darf und was nicht?”
48. KAPITEL
D ienstag, 29. April – 12:00 Uhr
Alle drei saßen sie um den runden Esstisch in Jeremys Haus und versuchten, den gesammelten Hinweisen sowie Meers Erinnerungen einen Sinn abzugewinnen. Sebastian zog zusätzlich Bücher aus Jeremys Bibliothek zurate und recherchierte außerdem im Internet.
“Sie erwähnten da eine Treppe im Haus der Gesellschaft”, sagte Malachai, an Meer gewandt. “Wohin führte sie?”
“Das war eine Geheimtreppe”, erwiderte Meer. “Sie führte in ein unterirdisches Gewölbe. Ich nehme an, Caspar hat Margaux eingeweiht, denn sie wusste, wo die Treppe zu finden war. Aber die Flöte war da unten nicht.”
Jetzt, mit einigem zeitlichen Abstand, fiel ihr die Schilderung ihrer Erinnerungen leichter als erwartet. Es war, als würde sie eine
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