Der Beethoven-Fluch
vermutlich, ob diese magische Flöte wohl auch seinem Sohn helfen konnte. Sie hörte es ihm an der veränderten Stimme an, dem verzweifelten Unterton. Er lechzte geradezu nach Informationen, die sich möglicherweise als hilfreich für sein Kind erweisen könnten. Meer hätte ihm gern geholfen. Aber sie war jetzt einunddreißig Jahre alt – und immer noch nicht in der Lage, sich selbst zu helfen.
Erneut überlief sie ein Frösteln; die Kälte traf sie diesmal mit der Wucht eines Gefühlssturms, der ihr das Herz gefrieren ließ. Der metallische Geschmack füllte ihren Mund. Ihr Vater, Malachai, Sebastian – alle wurden sie transparent, als wären sie keine festen Formen mehr, sondern geisterhafte Erscheinungen.
Nein!
, durchzuckte es sie.
Doch nicht schon wieder! Nicht hier!
Sie versuchte noch, die Bilder aus ihrem Kopf zu verbannen, aber da stürmten sie schon mit voller Wucht und in rasender Geschwindigkeit auf sie ein.
46. KAPITEL
W ien, Österreich
18. Oktober 1814
Quer durch den Saal hindurch nahm der Zar Blickkontakt mit Margaux auf und schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln. Vor ihm standen zwei Herren, doch der Monarch überragte sie alle beide. So konnte er, während die beiden glaubten, seine volle Aufmerksamkeit zu genießen, ungestört mit Margaux liebäugeln.
Trotz der angeregten Atmosphäre im Salon, hervorgerufen durch das Stimmengewirr und die zauberhafte Musik des Streicherquartetts, vermochte Margaux ihre Bedrückung nicht zu verdrängen – ganz gleich, wo sie gerade war, was sie tat oder wer gerade mit ihr kokettierte. Je schöner der Augenblick, desto deutlicher spürte sie Caspars Not, und desto aussichtsloser wurde ihre Mission. Wie lange konnte man sich das Warten noch erlauben? Tag für Tag suchte sie Beethoven auf und wurde doch jedes Mal nur Zeugin seiner erfolglosen Versuche, die Melodie der untergegangenen Erinnerungen zu entschlüsseln. Zur gleichen Zeit schmachtete ihr Mann in einem finsteren Loch, irgendwo in einem abgeschiedenen Kloster auf einem fernen Kontinent. Wie schlimm mochte es um ihn und seine Gesundheit stehen? Würde er durchhalten, bis seine Gattin die nötigen Mittel aufbrachte? Wie lange mochte es dauern, ihn zu finden? Sie holte Luft, tief und verzweifelt, und atmete langsam wieder aus. Ach, könnte sie ihren Tränen doch einfach freien Lauf lassen, statt hier so stocksteif zu stehen und die Form zu wahren! Hätte sie ihrer Liebe zu ihrem Gemahl entsagen können – sie hätte nicht lange gezögert. Hätte sie hingegeben, ihre Liebe, für einen einzigen sorgenfreien Tag, einen Tag ohne Furcht vor dem, was ihm wohl zustoßen würde, falls sie versagte. Doch aufgeben konnte sie nicht. Weder ihre Liebe – noch ihren Rettungsversuch.
Der Zar, einer der reichsten Männer der Welt, sah schon wieder zu ihr herüber, die grauen Augen gespannt und verlockend. Margaux erwiderte seinen Blick.
Falls Major Wells nicht ermächtigt war, die Flöte ohne die dazugehörigen Noten für die Familie Rothschild zu erwerben – möglicherweise konnte man dann den russischen Herrscher für die Magie des Instruments begeistern! Und zwar umgehend. Ehe es zu spät war. Margaux kämpfte gegen die Angst an, die in ihr aufstieg. Ein solches Doppelspiel war gefährlich, doch der Kummer dämpfte ihre Bedenken. Ein Rückzieher kam nun nicht mehr infrage; sie hatte schon zu viele Tage auf diese Begegnung hingearbeitet.
Ihr schönes Heim wimmelte ständig von klugen und wichtigen Leuten, die bei erlesenen Speisen und bezaubernder Musik miteinander plauderten und diskutierten. Alles nur Maskerade, die Höflichkeit der Salongäste bloß mühsam gewahrter Schein. Alle hatten sie ihre Hintergedanken, verfolgten ihre eigenen Pläne, wie man die Grenzen Europas nun, da Napoleon ins Exil geschickt worden war, neu festlegen sollte – selbstverständlich möglichst zum eigenen Besten. Der kleine Korse hatte sich durch seine Kriege halb Europa einverleibt, und jetzt, nach Bonapartes Niederlage, galt es, die Beute unter den Siegermächten aufzuteilen. Ungeachtet aller hehren Beteuerungen, es gehe um das Wohl aller Nationen, war doch jedes Land letztendlich nur auf seinen eigenen Vorteil aus. Insofern trog der Schein auch bei dieser Soiree, obwohl sie eigentlich ausschließlich einem gesellschaftlichen Anlass diente.
Abermals blickte Margaux hinüber zu Alexander I., jedoch nicht mit dem koketten Augenaufschlag, den er womöglich erwartete, sondern aufrecht und geradeaus. Sie hätte wetten können, dass
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