Der Bernstein-Mensch
1
Es war eine Tatsache, überlegte Major Paul Smith, während er auf das von Kratern übersäte Gelände starrte, das an ihm vorüberjagte, daß auf dem Planeten Mars Leben existierte.
Nein, nicht bloß der Landungstrupp – Kastor, McIntyre, Reynolds und Morgan –, der die nördlichen Ausläufer des Hellasbeckens erkundete, sondern eingeborenes, marsianisches Leben. Bis hinauf zu und mit größter Wahrscheinlichkeit einschließlich einer Anzahl von miteinander verwandten Unterarten komplexer Sporen. Der Beweis war erbracht. Zwei Jahrzehnte lang hatte eine Robotsonde nach der anderen, russische wie amerikanische, das Material einer vermutlich völlig verblüfften Bevölkerung auf der Erde übermittelt.
Es war wie mit der Ermordung eines berühmten politischen oder religiösen Führers: Man vergaß nie, wie man es zum ersten Mal selbst erlebt hatte. Für Smith war es im letzten Jahr auf der Akademie gewesen, während eines Physikseminars. Der Dozent, ein ehemaliger NASA-Techniker, unterbrach seinen Vortrag mitten im Satz, um eifrig mit drei strahlenden Kollegen zu tuscheln. „Meine Herren, meine Herren“, sagte er schließlich, der Klasse wieder zugewandt (und seine Hände zitterten wahrhaftig; Smith sah jetzt noch vor seinem inneren Auge, wie sie gezittert hatten), „soeben erfahre ich, daß man in Pasadena anscheinend Hinweise empfangen hat, die darauf schließen lassen, daß auf dem Mars möglicherweise Leben existieren könnte.“
Angst. Er erinnerte sich an das aufwallende Gefühl wie an einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Angst kroch an seinem Rücken hoch, den er straff und fest gegen die steife Lehne seines Stuhles preßte.
Wir sind nicht allein. Grüne Männchen. Fliegende Untertassen.
Glitschige Echsenungeheuer … Ob sie uns beobachten? Beinahe verlegen mußte Smith jetzt grinsen, als er daran dachte, wie ganz automatisch die alten Klischees auf ihn eingestürzt waren. Trotz der sorgfältig formulierten Zurückhaltung des Dozenten hatte seine Seele ängstlich gebebt.
Die Schlagzeilen der Abendzeitungen hatten es ohne irgendein anscheinend, möglicherweise oder könnte ganz unumwunden herausgeschrien:
L EBEN AUF DEM M ARS !
Und obwohl Smith inzwischen wußte, daß dieses „Leben“ nichts Schrecklicheres bedeutete als das Vorhandensein von organischen Stoffen im Marsboden, schlossen sich die eisigen Finger wieder um seine Wirbelsäule.
Leben auf dem Mars. Ganz unvermittelt sprach Smith diesen Satz laut in die gruftähnliche Stille des Kommandoraums im Orbit des Mars: vier schlichte kleine Wörter. Wenn man an die Stelle des letzten Wortes ein beliebiges anderes Substantiv setzte, war das Ergebnis banal bis albern. Smith probierte ein paar Beispiele: „Leben auf der Erde … Leben in Tibet … Leben auf dem Kneipenboden …“
„Leben auf dem Mars“, wiederholte Paul Smith. Ein großer Krater zog am Fenster vorbei, und die kreisförmige Berghänge wirkten wie die Kämme auf dem Rücken einer Hornkröte. Sicher gab es Leben dort unten, aber die alte Angst war längst erloschen. Selbst die fortgesetzten Berichte des Landungstrupps in Hellas über neue und bemerkenswerte Lebensformen berührten Smith nicht mehr besonders tief. Der menschliche Geist, so fand er, besaß ein erstaunliches Talent, überaus phantastische Wahrheiten in bemerkenswert kurzer Zeit in banale Tatsachen zu verwandeln.
Bei dem Gedanken an Zeit fiel ihm ein, daß er sich jetzt wohl besser bereitmachte. Smith hing zusammengekrümmt in der Ecke des Kommandoraumes, die dem Fenster am nächsten lag, so daß er auf die vorüberziehende Marsoberfläche
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