Der Bernstein-Mensch
Schädel, und ihm wurde schlecht. „Mein Gott“, rief er. „Er ist tot.“
3
Loretta Morgan glaubte, daß sie die furchtbare Feindseligkeit dieses Planeten unterschätzt hatten. Seit dem Tage der Schöpfung hatte der Mars eine Ewigkeit ungestört und passiv geruht. Wir sind wie Flöhe, die durch ein Hundefell krabbeln, dachte sie. Vielleicht zuckt der Mars und schüttelt uns ab.
Sie dachte daran, wie sie den armen McIntyre begraben hatten – sie hatten seinen Leichnam versiegelt wie einen ihrer Müllsäcke, um jede Möglichkeit der Verunreinigung zu verhindern. Kastor hatte sie ein eiskaltes Biest genannt, weil sie sich weigerte zu trauern. Sie hätte ihm ins Gesicht lachen können. In ihren Augen war das Leben ein Geschenk, und zu weinen, weil es nicht mehr da war, wäre genauso, wie wenn ein verzogenes Gör quengelt, weil der Weihnachtsmann nur vier Geschenke statt der erwarteten fünf gebracht hatte. Wir sind zum Mars gekommen, auf den wir nicht gehören, dachte sie, und deshalb werden wir alle sterben. Wir haben nicht das Recht, irgend etwas von diesem kalten Universum zu erwarten, und das gilt auch für das kostbare Geschenk des Lebens selbst.
Der Gedanke an das Leben ließ sie auch an den Tod denken. Und bei dem Gedanken an den Tod dachte sie an den armen McIntyre. Und mit McIntyre war sie gleich wieder bei Colonel Kastor.
Dieser dumme, einfältige Schweinehund, dachte sie. Erst hatte er gewollt, daß sie trauerte, und jetzt, wo es wirklich wichtig für ihn war, gab es absolut nichts mehr, was er tun könnte, so oder so.
Colonel Kastor war heute gestorben. Er hatte ein Kriechfahrzeug in einen zwanzig Meter tiefen Spalt gesteuert und war umgekommen. Ein Unfall. Ein verdammt dummer, sinnloser, achtloser, zweckloser Unfall.
Scheiße, dachte sie. Das war kein Unfall.
Der Mars hatte sich erhoben – ein schlafender Hund war erwacht – und hatte ein zweites Leben zerkratzt.
Erst McIntyre und jetzt Kastor.
Zwei waren noch übrig: sie und Reynolds.
Bald würde es nur noch einer sein.
Und dieser eine würde nicht sie sein.
Die harten, straffen Flächen des Schutzzeltes umhüllten sie beide. Draußen herrschte eine kalte Marsnacht, aber sie hatte ihren Abendspaziergang schon hinter sich. Nach Sonnenuntergang, sobald das kokonartige Gewebe des Zeltes im Sand stand, pflegte sie allein spazierenzugehen. Als Kastor noch lebte, hatte er diese privaten Streifzüge als ein Zeichen weiblicher Sentimentalität bezeichnet. Sie wußte es nicht. Aber sie wußte, daß sie hoch aufgerichtet auf der Spitze einer Düne stand und aus ihrem blasenförmigen Helm auf die stetige grüne Kugel der Erde starrte. Fünf Minuten stand sie so da und wandte den Blick nur, um zu blinzeln, und schließlich sagte sie ein stummes Lebewohl. Die Menschheit war in den Weltraum vorgedrungen, dachte sie, um ein für allemal zu lernen, wie verflucht bedeutungslos sie eigentlich war. Das war es, was der grüne Stern ihr sagte. Und das sagte ihr auch dies hier: Leben auf dem Mars. Und das sagten McIntyre und jetzt auch Kastor, beide tot und unbeweint, siebzig Millionen Kilometer entfernt von dem, was sie ihr Zuhause nannten. Und sie würde es selbst sagen, wenn sie an die Reihe käme, wenn sie ebenso tot wäre wie die beiden. Wer (oder was), so fragte sie sich, scherte sich auch nur im mindesten um ein einzelnes menschliches Wesen, ob tot oder lebendig oder beides?
Nein, sie glaubte nicht, daß sie verrückt war. Smith war verrückt, und Kastor wahrscheinlich auch, aber nicht sie. Dies war der Mars, und sie hatte die ganze Zeit gewußt, daß sie hier sterben würde. Es war keine Vorahnung – kein verstohlener Blick in eine mögliche Zukunft. Nein, es war Wissen – es war eine Notwendigkeit. Sie waren hierhergekommen, um
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