Der Bernstein-Mensch
nicht länger als ein paar flüchtige Augenblicke. Zweimal hat er die Vernichtung unserer Zivilisation in Augenblicken höchsten persönlichen Zornes angekündigt, aber niemals hat er es für erforderlich gehalten, diese Vorhersage auch zu erfüllen. Ich würde sagen, er ist eher freundlich denn rasend, eher sanftmütig denn brutal. Ich glaube, er liebt unser Volk tief und fest. Unter den Sternen des Universums ist seine Stellung nicht bedeutend, aber er ist unser Heimatstern, und wir müssen ihn verehren. Und das tun wir natürlich auch.“
„Sprechen Sie weiter“, sagte Reynolds.
Jonathon fuhr fort, und Reynolds lauschte ihm. Der Alien sprach von seiner persönlichen Beziehung zu dem Stern und davon, wie der Stern ihm in Zeiten individueller Finsternis geholfen hatte. Einmal war er ihm bei der Partnersuche behilflich gewesen, und die daraus resultierende Verbindung war nicht nur vollkommen, sie war geradezu göttlich gewesen. Die ganze Zeit hindurch redete Jonathon über seinen Stern wie ein ehrfürchtig-frommer Jude über den Gott des Alten Testaments gesprochen hätte. Zum ersten Mal bedauerte Reynolds jetzt, daß er den Recorder hatte zerstören müssen. Wenn er versuchte, Kelly von diesem Gespräch zu berichten, würde sie ihm kein Wort glauben. Während er sprach, zwinkerte der Alien nicht ein einziges Mal, nicht einmal kurz – und Reynolds sah genau hin.
Schließlich war er fertig. Er schloß: „Aber dies ist nur ein Anfang. Wir können einander so viel geben, Bradley Reynolds. Wenn ich nur erst mit Ihrem technischen Vokabular vertraut bin. Kommunikation zwischen getrennten Wesenheiten – die großen Barrieren der Sprache …“
„Ich verstehe“, sagte Reynolds.
„Das wußten wir. Aber nun sind Sie an der Reihe. Erzählen Sie mir von Ihrem Stern.“
„Wir nennen ihn ‚Sonne’“, sagte Reynolds. Dabei kam er sich mehr als nur ein bißchen albern vor – aber was sollte er sonst sagen? Wie konnte er Jonathon sagen, was er wissen wollte, wenn er es selbst nicht wußte? Alles, was er über die Sonne wußte, waren Tatsachen. Er wußte, wie heiß sie war, wie alt sie war, er kannte ihre Masse, ihre Größe und Abmessungen. Er kannte Sonnenflecken, Solarwinde und Solaratmosphäre. Aber das war alles. War die Sonne ein wohlwollender Stern? War sie ständig zornig? Verehrte die Menschheit sie mit der angemessenen Liebe und Hingabe? „Das ist sein volkstümlicher Name. In der alten Sprache, welche die Wissenschaft verwendet, nennt man ihn ‚Sol’. Er liegt etwa acht …“
„Oh“, sagte Jonathon, „alles das wissen wir bereits. Aber sein Verhalten. Seine Launen, die normalen und die abnormalen. Sie spielen mit uns, Bradley Reynolds. Sie scherzen. Wir verstehen, daß es Sie amüsiert, aber bitte – wir sind einfache Seelen, und wir haben eine weite Reise hinter uns. Diese anderen Dinge müssen wir wissen, bevor wir es wagen, uns dem Stern persönlich zu nahem. Können Sie uns sagen, in welcher Weise er ihr persönliches Leben am häufigsten beeinflußt hat? Das würde uns schon sehr viel weiter helfen.“
2
Obgleich sein Zimmer völlig im Dunkeln lag, machte sich Reynolds beim Eintreten nicht die Mühe, das Licht einzuschalten. Er kannte jeden Zoll dieses Zimmers, kannte es im Dunkeln so gut wie im Hellen. In den letzten vier Jahren hatte er durchschnittlich zwölf Stunden täglich hier verbracht. Er kannte die vier Wände, den Schreibtisch, das Bett, die Regale, die Bücher, er kannte sie besser, als er jemals einen anderen Menschen gekannt hatte. Er erreichte das Klappbett, ohne einmal mit dem Fuß irgendwo anzustoßen oder über ein offenes Buch zu fallen oder über eine ausgebreitete Karte zu stolpern, und setzte sich darauf. Er legte die Hände auf sein Gesicht und spürte die Falten auf seiner Stirn wie große, breite Striemen. Es gab ein Spiel, das er gelegentlich mit diesen Falten spielte, wenn er allein war. Er tat dann so, als ob jede von ihnen ein Ereignis, eine Facette seines Lebens repräsentierte. Diese hier, die große über seiner linken Augenbraue – das war der Mars. Und die hier, fast schon an seinem rechten Ohr – das war ein Mädchen namens Melissa, das er damals in den achtziger Jahren gekannt hatte. Aber jetzt war er nicht in der richtigen Stimmung für dieses Spiel. Er ließ die Hände sinken. Im Grunde wußte er genau, was die Falten in Wirklichkeit waren: das Alter, schlicht, einfach und ehrlich – das Alter. Keine von ihnen bedeutete etwas ohne die
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