Der Bernsteinring: Roman
wie Adel und A wie Anna.«
»A wie albern.«
»Richtig, A wie Armut.«
»Scheiße!«
»In diesem unaussprechlichen Wort ist kein A enthalten.«
»Schon gut. Wir sind beide nicht von Adel. Gib es zu.« »Warum sollte ich?«
»Weil ich es getan habe.«
Anna schnaubte leise, aber es war Erheiterung, die sie mit diesem Geräusch überdecken wollte.
»Wo kommst du her, Rosa?«
»Von nirgendwo. Bin umhergezogen. Langt das? Wie heißt der nächste Buchstabe?«
»Wir machen mit den Vokalen weiter. Dies ist ein E. E wie Ehre.«
»E wie eklig, E wie Ende!«
»E wie Erbe, E wie Ehe.«
»Wo kommst du her?«
»Ich bin hier geboren, auf dem Katzenbauch!«
Rosa begann haltlos zu kichern: »Klar, Herzchen, da kommen alle kleinen Kinder her!«
»Nein, die kommen aus dem Kunibertspütz!«, gluckste Anna.
»Oh, doch nicht ganz blöd?«
»Die Straße heißt ›Auf dem Katzenbauch‹ und liegt nördlich von hier. Und der nächste Vokal lautet I. Wie Ida-Sophia, unsere ehrenwerte Äbtissin.«
»Wie igitt und Irre!«
»I wie Ideal und ich.«
»Quatsch.«
»Warst du wirklich mit dem von Gudenau verheiratet?«
»Sicher. Der Friederich war der jüngste Sohn, hatte zwar nicht viel zu erwarten, aber mir hat es wenigstens ein halbwegs vornehmes Dach über dem Kopf geboten. Der Junge war ein bisschen schwach im Denken, nur deshalb hat es ja geklappt. Hab ihn zum Priester geschleppt, bevor ihm klar war, was er eigentlich tat.«
»Die Familie hat dich vermutlich nicht mit offenen Armen aufgenommen?«
»Sie haben kein Kalb geschlachtet, nein, am liebsten hätten sie mich mit faulen Eiern beworfen.«
»Immerhin haben sie dir ermöglicht, hier unterzukommen.«
»Abgeschoben haben sie mich. Was glaubst du, wie dankbar ich ihnen dafür bin?«
»Besser als auf dem Berlich zu landen.«
»Woher weiß eine solch vornehme Dame vom Katzenbauch von dem Hurenhaus der Stadt?«
»Liegt nicht weit entfernt.«
»Oh!«
»Das ist der nächste Buchstabe, das O. Wie oben.« »Und ohne und Not. Wer hat deine Mitgift bezahlt und dich hier reingebracht?«
»Ein gütiger Mann.«
»Dein Geliebter?«
»Aber nein. Ein Gewürzhändler.«
»Schließt das einander aus?«
»Der letzte Vokal lautet U. Wie...«
»Unehrlich und unehelich, was?«
Anna senkte den Kopf.
»Ich verrat’s nicht, Anna. Und du verrätst nicht, dass ich eine Gauklerin bin, einverstanden? Gemeinsam schaffen wir das schon, unsere Ziele zu erreichen.«
»Rosa, ich wollte wirklich Stiftsdame werden. Der andere Weg kam für mich nie in Frage.«
»Ja, das glaube ich dir. Zur Hure taugst du nicht. Und nun lass uns sehen, was man mit diesen Buchstaben anfangen kann.«
Nach zwei Wochen war Rosa in der Lage, Texte in einfach geschriebenen Buchstaben zu lesen. Für sie tat sich eine neue Welt auf.
Und Anna hatte eine Freundin gefunden.
12. Kapitel
Die drei Marien
Der zehnte August barg für die Kanonissen ein ganz besonderes Ereignis. Man feierte den Todestag der Kirchenstifterin, die als Heilige verehrt wurde, und deren Grab sich in der Kirche selbst befand. Vornehme Gäste, Angehörige der Stiftsdamen, hohe kirchliche Würdenträger, reiche Bürger, die sich dem Stift verbunden fühlten, und sogar der Bürgermeister waren anwesend. Das Hochamt wurde abgehalten, anschließend hatte die Äbtissin ausgewählte Gäste zu einem Festmahl in ihr Haus eingeladen. Aber auch die Kanonissen fanden im Refektorium eine umfangreich gedeckte Tafel vor. Mit Kräutern und Rosinen gefüllte Kalbsbrust, kräftig abgeschmeckt mit Muskat, in safrangelber Milch gekochte, fette Aale, gewürzt mit Paradieskörnern und Nelken, knuspriger Schweinebraten mit Äpfeln und zerstoßenem Ingwer, dazu saftige Salbeitorte, luftig durch die vielen Eier, standen bereit. In den Schüsseln dampften dazu in Mandelmilch gesottene Hühnerbrüstchen für jene, die die scharfen Gewürze nicht mehr vertrugen. Daneben häuften sich auf den Platten brennend scharf gepfefferte Pasteten, Täubchen in Backteig, Hasenrücken in Rotweingelee und sauer eingelegte Gemüse. Brotlaibe, frisch und noch warm, luden ein, sie in die verschiedenen Saucen zu tunken, und kühler Rheinwein löschte den Durst, den die stark gewürzten Speisen verursachten. Süße Kuchen und Pasteten, in Honig eingelegte Früchte und Puddings lockten die Naschkatzen an.
Anna saß wie üblich neben Dionysia, die nur wenig aß. Auf ihrer anderen Seite jedoch häufte Rosa die Speisen üppig in ihre Schüssel. Vor allem der süßen Verlockung konnte
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