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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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gemacht, aber wenn die Singmeisterin die Chorgesänge einübte, stellte Anna fest, bewegte Rosa nur stumm die Lippen. Und die feinen Stickarbeiten, mit denen sie sich beschäftigen sollten, ähnelten nach wenigen Tagen eher Putzlumpen als Ziertüchlein.
    Anna verbrachte mehr und mehr Zeit im Skriptorium, um Rosa aus dem Weg zu gehen. Sie hatte inzwischen damit begonnen, die Vorzeichnung für ein buntes Ritterturnier mit dem Silberstift anzulegen, der letzten weltlichen Lustbarkeit, an der sie an der Seite von Hrabanus Valens teilgenommen hatte. Über diese laute, aufregende, farbenprächtige Veranstaltung dachte sie auch nochnach, als sie nach der Complet in ihrem Bett lag und der Vollmond, der durch die Ritzen der Holzläden schien, sie nicht schlafen ließ. Sie stellte sich vor, wie sie die smaragdgrünen und scharlachroten Schabracken der Pferde, die wehenden gelben und weißen Helmbüsche, die im Sonnenlicht gleißenden Rüstungen, die flatternden Wimpel, die kostbaren Kleider der Damen, den glitzernden Schmuck, ihre ausgefallenen Hauben und schimmernden Schleier darstellen würde. Es waren phantastische, ja überwältigende Bilder, sie sich ihr geboten hatten. Aber sie erinnerte sich ebenfalls an das brutale Zusammentreffen der Kämpen, die splitternden Lanzen und klirrend parierenden Schwerter. Sie sah noch die verrenkten Glieder, die gebrochenen Knochen und die blutverschmierten Köpfe der gestürzten Ritter vor sich, die sich zeigten, wenn ihre Knappen sie von den Helmen und Panzern befreiten. Es hatte Verwundete und Tote gegeben, und das Volk hatte sich daran ebenso ergötzt wie an den vornehmen Gewändern, den Musikanten und den feilgebotenen Leckerbissen.
    Ruhelos drehte Anna sich wieder um und stieß die dünne Leinendecke von den Füßen. Es war warm geworden in diesem Juli. Stickig und heiß. Und außerdem – es ließ sich nicht leugnen – Rosa war nicht in ihrem Bett. Sie war nach der Vesper verschwunden. Bei der Complet hatte Anna sie mit Kopfschmerzen entschuldigt und sich dann bemüht, nicht weiter an diese hinterlistige Schlange zu denken. Erst vorgestern hatte sie sie erwischt, wie sie in einem ihrer wertvollen Bücher gestöbert hatte. Obwohl sie doch weder lesen konnte noch des Lateinischen mächtig war. Sie war zwar in der Lage, sehr gewissenhaft mit dem Finger den Zeilen zu folgen und die Lippen dabei zu bewegen. Um ihren Verdacht in dieser Hinsicht zu bestätigen, hatte Anna ihr nämlicheinmal einen ganz anderen Text zitiert, als der, der in dem Psalter stand, in den Rosa so versunken schien. Sie hatte es nicht bemerkt.
    Wo war dieses verrückte Weib? Ob sie ihr Verschwinden melden sollte?
    Anna rang mit sich. Es wäre wohl ganz korrekt, ihre Abwesenheit zu melden. Aber sie hatte ja zur Complet schon einmal gelogen, warum, war ihr selbst nicht ganz klar. Eigentlich mochte sie Rosa nicht. Immer, wenn sich die Gelegenheit bot, spielte sie auf ihre Herkunft an, hänselte sie wegen ihrer Gelehrsamkeit, ihrer Keuschheit, der Farbflecken an den Fingern oder ihrem Pflichtbewusstsein, an den Stundengebeten teilzunehmen.
    Ob ihr etwas zugestoßen war? Die nächtlichen Straßen Kölns waren nicht ungefährlich. Zwielichtiges Gesindel trieb sich herum. Zum einen die nächtlichen Arbeiter, die ihren Ekel erregenden Geschäften nachgingen, die Kloakenreiniger, die Hundschläger, die Schinder, die die Kadaver der verendeten Tiere aufsammelten, zum anderen die Dirnen, die Hurenwirte und die Diebe, die alle den Zechern auf die eine oder andere Weise das Geld aus der Tasche zogen.
    Rosa musste etwas passiert sein. Seit Anbruch der Dämmerung war sie verschwunden. Aber was sollte sie tun? Anna stand auf, öffnete das verglaste Fenster und stieß die Läden auf. Ihre Kammer befand sich im ersten Stock des Kanonissenhauses, und unter ihr zog sich die Gasse entlang, die gemeinhin ›Hinter Sankt Marien‹ genannt wurde. Sie war leer und verlassen. Nur eine graue Katze huschte an der Hauswand entlang, eine Ratte im Maul. In einer der Kammern im Haus gegenüber flackerte noch ein Lichtchen, sonst war es dunkel in den Gebäuden. Von irgendwoher klang ein sägendes Schnarchen, und ein kleines Kind wimmerte nach seiner Mut-ter. Jemand sang. Jedoch nicht schön. Es mochte ein bekannter Gassenhauer sein, aber die Sängerin war nicht in der Lage, auch nur einen Ton halbwegs zu treffen. Die Stimme selbst war rau, als hätte sie schon zu viel und zu laut schreien müssen.
    Dann tauchte sie auf und verstummte – die

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