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Der Bernsteinring: Roman

Der Bernsteinring: Roman

Titel: Der Bernsteinring: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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dieser späten Stunde noch das Badehaus besucht hatten.
    Sie schrien auf, als sie Anna unerwartet auftauchen sahen.
    »Anna, du hast mich erschreckt. Ich glaubte, du seist ein Geist! Wo kommst du her?«
    »Vom Lichhof.«
    »In der Dunkelheit? Zwischen den Gräbern? Hilf Himmel, die Gerüchte sind wahr. Hast du mit dem Teufel gebuhlt?«
    »Quatsch. Nicht mit dem Teufel, mit dem Henker!« Den darauf folgenden Schrei ignorierte Anna und begab sich in ihre Kammer.
    Die Äbtissin befahl sie am nächsten Tag zu sich. Sie fand Anna auf das Äußerste verstockt und unwillig, auch nur ein einziges Wort zu dem Vorfall zu sagen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr wegen des Vergehens vor der Kapitelversammlung einen scharfen Verweis zu erteilen und sie bei Wasser und Brot auf ihre Kammer zu verbannen. Von der Gemeinschaft war sie auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen.
    Anna war diese Strafe nur sehr recht. Noch hatte sie den Schlüssel zur Pforte, noch hatte niemand darüber Vermutungen angestellt, ob sie das Gelände desStifts unrechtmäßig verlassen hatte. Und in den Stunden, die sie tatenlos in ihrem Zimmer verbrachte, wurde ihr Entschluss immer klarer. Wenn Rosa freigekommen war und der Ratsherr wieder nach Köln zurückgekehrt war, würde sie ihren Austritt erklären. Zuflucht würde sie sicher in Hrabanus’ Haus finden. Das Leben als Stiftsdame war endgültig für sie vorbei.
    Quälend langsam verstrichen die Stunden des Donnerstags, der Nacht und die Tagstunden des Freitags. Ein kleines Bündel mit Kleidern und etwas Geld für Rosa war bald geschnürt. Endlich ging die Sonne an diesem Septembertag unter, und Anna hüllte sich wieder in ihren schwarzen Umhang und versteckte das Bündel darunter. Inzwischen war sie geübt darin, ungesehen das Gelände zu verlassen. Während die Stiftsdamen sich zur Komplet in der Kirche versammelt hatten, schlüpfte sie auf die Gasse. Julius, in Pilgerkutte und mit tief in das Gesicht gezogenem Hut, erwartete sie.
    »Kommt, Anna. Alles ist gerichtet. Wir haben für Verkleidung gesorgt, und im Morgengrauen verlassen wir die Stadt.«
    »Gut.«
    »Ich hoffe, wer immer uns hilft, hält sich an seine Abmachung.«
    »Er wird.«
    »Ihr seid sehr sicher.«
    »Er ist ein ehrenhafter Mann.«
    Die Dämmerung legte ihren grauen Schleier über die Stadt, und die Straßen versanken in schattigem Dunkel. Doch Julius bewegte sich sicher durch das Gewirr der Gassen bis hin zum Dom. Dort stand, grau und unnahbar, das massive Gebäude des erzbischöflichen Kerkers – die Hacht.
    Zwei weitere Gestalten warteten dort schon unter demTorbogen auf sie, eine Nonne und ein weiterer Mann im grauen Pilgergewand. Anna erkannte sie erst, als Julius sie ihr flüsternd vorstellte. Es waren die beiden Gaukler, die bei dem Totentanz in wechselnden Verkleidungen mitgewirkt hatten. Gemeinsam warteten sie schweigend darauf, dass sich das Türchen unter dem Bogengang öffnete.
    Und dann war es so weit. Mit einem leisen Knarren tat sich ein Spalt auf, und eine Gestalt wurde hinausgeschoben. Verwirrt sah sie sich um.
    »Psst, Rosa. Still!«
    »Anna!«
    Schluchzend fiel Rosa ihr um den Hals. Anna hielt sie fest und streichelte ihr beruhigend den Rücken.
    »Still, Rosa. Wir müssen fort, schnell.«
    Die Nonne warf der Freigelassenen ebenfalls eine graue Kutte um und zog ihr die Kapuze über den Kopf.
    »Wir haben unsere Wagen schon zur Stadtmauer gebracht, aber einige von uns sind im Pilgerhospiz Sankt Johann Baptist abgestiegen«, murmelte sie dabei. »Wir bringen Euch zu den Wagen.«
    Die grauen und schwarzen Umhänge verschmolzen mit der Dunkelheit zwischen den Häusern, als sie schweigend Richtung Westen wanderten. Schließlich fanden sie die Wagen der Gaukler hinter Sankt Aposteln auf freiem Feld stehen.
    »Hier hinein, Anna!«, flüsterte Julian und schob die beiden Frauen in eines der mit Planen bedeckten Gefährte. »Ihr findet passende Verkleidung für sie da drin. Was sie jetzt trägt, müssen wir verbrennen. Eilt Euch!«
    Rosa trat in den Wagen, und die Nonne reichte ihnen ein Handlicht hinein. In seinem flackernden Schein sahen sich die beiden Frauen an.
    »Du wirst die Rolle eines siechen Jungen spielen, dernach Aachen pilgert, um um Heilung zu beten. Zieh diese Kleider aus.«
    Aber Rosa stand nur zitternd in dem engen Raum und sah sich um.
    »Der Wagen meines Vaters!«, murmelte sie. »O heiliger Sankt Vitus.«
    »Rosa, die Zeit drängt. Und dieses Kleid...«
    Es war das Kleid, das sie getragen hatte, als

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