Der Bernsteinring: Roman
verliebt, Anita. Und es war eine schöne Zeit. Es hat mir zwar fast das Herz gebrochen, als er Uschi geheiratet hat. Aber, weißt du, auch diese Dinge heilen irgendwann. Er hat sich nie gescheut, Rose anzuerkennen und sich um sie zu kümmern. Und so nach und nach sind wir gute Freunde geworden. Es tut mir aufrichtig Leid, ihn an diesem letzten Abend verpasst zu haben. Ich war mit den Vorbereitungen für unseren Australienaufenthalt beschäftigt und hatte keine Zeit.«
Eine Alarmglocke schrillte in meinem Gehirn. »Wieso verpasst, Sophia? Wolltet ihr euch denn noch treffen?«
Eines der völlig unklaren Dinge im Zusammenhang mit dem Unfall meines Vaters war die Tatsache, dass niemand wusste, wo er die zwölf Stunden vor seinem Tod verbracht hatte. Er hatte am späten Nachmittag das Aufnahmestudio verlassen und hatte gegen zwanzig Uhr einen Termin bei seinem Agenten in Koblenz. Dort war er nie angekommen.
»Wusstest du das nicht? Ich dachte, Rose hätte es dir gesagt. Er wollte sie besuchen, und ich wollte eigentlich kurz dazustoßen, um mich zu verabschieden.«
Mir lief etwas kalt über den Rücken.
»Nein, Rose hat mir nichts davon erzählt.«
»Wahrscheinlich hat sie es verdrängt. Wir haben uns beide entsetzliche Vorwürfe gemacht, dass wir erst Wochen später überhaupt von seinem Tod erfahren haben.
Im australischen Busch gab es keine Zeitungen, und ein verunglückter deutscher Schlagersänger, der die Zeit seiner größten Popularität hinter sich hat, ist für die dortigen Nachrichtensender nicht eben ein Highlight.«
Ich dachte nach. Ja, das war durchaus denkbar, dass Rose, die in manchen Dingen überaus empfindsam war, daran nicht denken wollte. Oder nicht darüber sprechen konnte.
»Mal sehen, wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich sie darauf ansprechen. Vermutlich wird er nicht bis zum Morgengrauen bei ihr geblieben sein.«
»Nein, bestimmt nicht. Er wollte gegen halb fünf kommen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, das macht Sinn, denn er hatte ja noch einen Termin in Koblenz.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile, dann verließ sie mich, und ich war mit meinen Gedanken alleine. Sie nahmen seltsame Wege.
Hela Bernes mit ihrem Laptop riss mich aus ihnen. Sie hatte den Raum verlassen, als Uschi anfing, Gift zu sprühen.
»Ich sollte berufsmäßig Vorhersagen machen, statt Artikel über schwierige Aspekte im Radix-Horoskop zu verfassen.«
»Ja, Ihre Warnung vor Mütterärger war richtig gut.«
»Ich zoffe auch gelegentlich mit meiner Tochter herum, aber, mh... es geht meist schnell vorbei.«
»Sie leidet noch unter dem Tod meines Vaters. Aber langsam bin ich so weit, die Geduld zu verlieren. Nicht alles kann man mit Trauer entschuldigen.«
»Wut braucht ein Ziel. Und sie ist wütend auf das Schicksal, das ihr diesen Verlust beschert hat.«
»Das Ziel ist meine Schwester Rose. Wahlweise dann ich.«
»Die Wut könnte sie auch gegen sich selbst richten.« »Hatten wir ebenfalls schon.«
»Fühlt sie sich möglicherweise schuldig an dem Tod Ihres Vaters? Das würde es zumindest erklären.«
»Möglich. Aber darüber kann ich mit ihr nicht reden.«
»Sie braucht vermutlich professionelle Hilfe.«
»Auch das hatten wir schon. Lassen wir das Thema, Hela. Sie haben mir eine Denksportaufgabe gegeben, die ich zu lösen habe, dabei ist meine Mutterbeziehung nur ein Punkt unter vielen.«
Sie nickte mir freundlich zu und klapperte weiter auf ihrer Tastatur herum. Ich hingegen betrachtete mein Leben, und fand, dass es wahrhaft an der Zeit war, mit dem ziellosen Herumhängen aufzuhören. Offenbar hatte man es mir bisher zu leicht gemacht. Ich hatte mich nie nach der Decke strecken müssen, Julian hatte mich gut versorgt. Ich hatte auch nie Probleme zu lernen, weder in der Schule noch im Studium. Es machte mir eigentlich immer Spaß, ein Thema gründlich zu durchdringen. Darin lag bisher mein Ehrgeiz, nicht darin, daraus einen Beruf zu machen. Doch das begann sich allmählich zu ändern, und das war vermutlich gut so. Genau, wie sich meine Beziehungen zu anderen Menschen veränderten. Ich hatte zwar immer Freunde, meist aber schnelllebige Bekanntschaften, die selten über das Stadium des Amüsements hinausgingen und nie wirklich Verantwortung von mir verlangten. So recht betrachtet, war Rose eigentlich die erste Person in meinem Leben, für die ich mich richtig engagierte. Und nun zeigte sich, dass sie mir etwas ganz Wesentliches verschwiegen hatte. Julians Besuch am Abend vor seinem Unfall.
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