Der Bernsteinring: Roman
sie nicht widerstehen.
»Diese Kirschen, Anna!«
»Rosa, du weißt, welche Sünden du demnächst beichten musst!«
»Habgier, Wollust und Maßlosigkeit.«
»Trägheit wird auch noch dazukommen. Oder glaubst du wirklich, du bist mit einem derart vollen Bauch noch in der Lage, in die Kirche zu kriechen?«
Dionysia belustigte das Gespräch der beiden jungen Frauen. Sie hatte vor zwei Tagen mit der Äbtissin über sie gesprochen und bemerkt, wie gut es Anna tat, sich um die ungebärdigere Rosa zu kümmern und Rosa hingegen von Annas Wissen und Zielstrebigkeit profitierte.
Nach dem Mahl, es war eine ruhige und schläfrige Stimmung aufgekommen, ergingen sich die Besucher im Stiftsgarten oder suchten die Kühle der Kirche auf, um die prunkvollen Seitenkapellen und die farbigen Glasfenster zu bewundern. Anna hingegen lehnte alleine an einer Säule im Kreuzgang und beobachtete zwei Rotkehlchen, die einige Brotkrumen aufpickten, die sie ihnen hingeworfen hatte.
»Und wie fühlt sich die Stiftsjungfer Anna di Nezza in ihrem neuen Heim?«
Anna hätte überrascht sein können, aber zu ihrer eigenen Verwunderung war sie es nicht. Obwohl sie Hrabanus Valens nicht unter den Besuchern gesehen hatte, kam es doch nicht unerwartet, dass er an diesem Tag den Stift besuchte. Sie drehte sich um und lächelte ihm zu. Sein vernarbtes Gesicht lag unter dem breiten Barett im Schatten, und die weite Schaube mit ihren Seidenbesätzen streifte flüchtig ihre strenge Tracht.
»Ich bin Euch von Herzen dankbar, Herr, hier leben und wirken zu können.«
»Du kannst wirken? In der Tat? Und was sind deine Aufgaben?«
»Die Schreibmeisterin fand meine Hand nicht zu ungelenk, und so beschäftige ich mich jetzt im Skriptorium.«
Er sah sich achtsam um und fragte dann leise: »So gibt es keine Schwierigkeiten bezüglich deiner Herkunft?«
»Nein, Herr. Ich halte mich sehr zurück. Es mag die eine oder andere geben, die mich für mundfaul hält, aber Mutter Dionysia gab mir auch Unterricht in der deutschen Sprache, und so kann ich allmählich an den Gesprächen teilnehmen.«
Anna kicherte ein wenig bei der Erinnerung an die Lektionen, die ihr die alte Kanonisse in der ersten Zeit erteilt hatte. Inzwischen hatte sie es aufgegeben und nur einmal verwundert bemerkt, sie habe eine erstaunlich gute Auffassungsgabe.
»Nun, das ist gut so. Je länger du hier bist, desto weniger wird man fragen. Ist für dein Wohlbefinden ausreichend gesorgt, Kind?«
»Auch das, Herr, obgleich ich seit einigen Monaten die Kammer mit einer anderen Kanonisse teilen muss. Aber es ist ganz recht, ein wenig Gesellschaft zu haben. Und Rosa ist nicht so hochnäsig wie manche der hochadligen Damen.«
Anna hätte sich am liebsten auf die Lippe gebissen, beinahe hätte sie Rosas Geheimnis gelüpft.
»Wer ist es?«
»Rosa von Gudenau«, antwortete sie diesmal nur ganz kurz.
»Schön, dann bist du also zufrieden mit deinem jetzigen Los.«
»Ja, Herr.«
Anna hob langsam den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er deutete ihr Zögern ganz richtig.
»Was liegt dir am Herzen, Kind?«
»Nun... ich will nicht unbescheiden sein...«
»Aber? Was wäre, wenn du dir noch etwas wünschen könntest?«
»Wisst Ihr, die Bibliothek des Stifts... Sie ist – mh – äußerst dürftig bestückt.«
»Du findest dort nichts zu deiner Erbauung?«
»Zur Erbauung, Herr, schreibe ich die Worte des Herrn. Zur Erbauung singe ich Seine Psalmen und höre die Lesungen aus Seinen Schriften.«
»Zur Unterhaltung aber möchtest du etwas anderes lesen.«
Mit einer plötzlichen Regung von Heftigkeit stieß Anna hervor: »Herr, mein Geist hungert danach, mehr über die Wunder dieser Welt zu erfahren.«
Sein Lachen hallte durch die mittägliche Stille des Kreuzgangs.
»Nun, dann werde ich der Ehrwürdigen Äbtissin eine weitere Stiftung für ihre Bibliothek machen. Ich persönlich werde mich um die Auswahl der Bücher kümmern, damit sie sicher sein kann, dass kein ketzerisches oder sittenloses Werk darunter ist.«
»Wollt Ihr das wirklich tun?«
»Es wird meinem Seelenheil nicht schaden, eine gute Tat zu vollbringen, glaubst du nicht auch, Anna?« »Eine verdammt gute, Herr!«, flüsterte sie.
»Psst!«
Aber er lächelte sie trotz dieses Ausrutschers immer noch an.
»Anna, die Nase! Anna, du faule Kröte, wo steckst du? Wir sollen zur Singmeisterin kommen.«
Rosa kam mit wehenden Gewändern um die Ecke gefegt, die blonden Haare aufgelöst unter dem Schleier, und blieb abrupt vor Hrabanus
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