Der Besen im System
»Durchbruch«?
JAY: Das wissen Sie besser als ich.
LENORE: Nein, aber ich ahne, dass der Sicherheitsgurt an meinem Stuhl weniger meiner Sicherheit dient als Ihrer. Weil die Leute Ihnen sonst an die Gurgel gehen würden.
JAY: Sie fühlen Wut in sich aufkommen?
LENORE: Nein, ich fühle mich beschissen. Ganz einfach und völlig unbeeinflusst: beschissen. Interessant für wen?
JAY: Wem gegenüber könnten Sie sich denn interessant machen, denken Sie mal nach.
LENORE: Was soll denn diese Frage wieder?
JAY: Der Geruch des Durchbruchs wird schwächer.
LENORE: Hören Sie ...
JAY: Ja?
LENORE: Angenommen, Urgroßmutter sagt mir – und sagt es so richtig überzeugend –, dass mein Leben nur insoweit existiert, als man darüber berichten kann.
JAY: Und was bedeutet das jetzt?
LENORE: Sie fühlen Wut in sich aufkommen?
JAY: Nein, aber hier unter dem Tisch habe ich einen Knopf für den Schleudersitz. Mit dem kann ich Sie auf den See schießen, wenn ich will.
LENORE: Sie sind wirklich der schlechteste Psychologe aller Zeiten. Warum lassen Sie mich eigentlich nie ausreden?
JAY: Sie haben Recht, tut mir Leid.
LENORE: Deshalb bin doch hier, oder? Dafür zahle ich Ihnen etwa zwei Drittel meines Nettoeinkommens, oder?
JAY: Lenore, ich fühle mich geehrt und gleichzeitig tief beschämt. Darum zurück zu Ihrer Urgroßmutter und zu einem berichteten, nicht gelebten Leben.
LENORE: Gut.
JAY: Gut.
LENORE: Was bedeutet das nun?
JAY: Das müssen Sie mir sagen!
LENORE: Also. Ein Leben, das nur berichtet, aber nicht gelebt wird, ist so, als ob das Leben gleichbedeutend mit seiner Verwandlung in Sprache wäre und dass nichts mit mir geschieht, das nicht erzählt würde oder erzählbar wäre. Aber wenn das so ist, warum überhaupt leben?
JAY: Ich verstehe die Frage nicht.
LENORE: Vielleicht ergibt das ja alles keinen Sinn. Vielleicht ist das alles vollkommen irrational und bescheuert.
JAY: Immerhin beschäftigt es Sie.
LENORE: Gut beobachtet. Aber wenn ich außerhalb der Sprache nicht existiere, was unterscheidet mich dann noch von der Frau in Ricks Geschichte, der Frau, die in einem fort Junkfood in sich hineinstopft, entsetzlich zunimmt und schließlich im Schlaf ihr Baby erdrückt? Sie existiert auch nur in dem, was über sie berichtet wird, kein bisschen mehr. Und offenbar ist es mit mir genauso. Großmutter sagt, sie würde mir beweisen, dass das Leben nur aus Wörtern und aus sonst gar nichts besteht. Großmutter sagt, Wörter könnten töten und erschaffen, und zwar alles.
JAY: Hört sich für mich eher so an, als wäre Großmutter schon ein bisschen gaga.
LENORE: Überhaupt nicht. Sie ist nicht verrückt, und dumm ist sie auch nicht. Sie sollten das wissen. Begreifen Sie denn nicht: Wenn sie allein mit Worten all das bei mir ausrichten kann, wenn sie erreichen kann, dass ich mein eigenes Leben als so kaputt und bruchstückhaft empfinde, dass ich mich frage, ob ich wirklich ich bin, das heißt, falls es so etwas gibt wie »ich«, wenn lediglich Worte das schaffen können, was lehrt uns das über die Macht der Worte?
JAY: »... fragte sie wortmächtig.«
LENORE: Genau. Das ist es. So sieht es auch Lenore. Deshalb macht es mich ja so wahnsinnig, wenn Rick jedes Mal nur reden will. Reden, reden, reden. Erzählen, erzählen, erzählen. Aber wenigstens erzählt er Geschichten, das ist ehrlicher, da weiß man, was man hat. Man weiß, was Geschichte ist und was nicht.
JAY: Rieche ich da doch einen kleinen Durchbruch?
LENORE: Warum können Sie meine Achselschweiß-Theorie nicht akzeptieren?
JAY: Warum ist eine Geschichte ehrlicher als das Leben?
LENORE: Eine Geschichte ist ehrlicher, irgendwie.
JAY: Ehrlich heißt hier näher an der Wahrheit?
LENORE: Rieche ich hier eine Falle?
JAY: Für mich riecht es eher nach Durchbruch. Sie wollen sagen, es gäbe keinen Unterschied zwischen dem Leben und einer Geschichte? Sie wollen sagen, dass das Leben nur so tut, als sei es mehr als das Leben, es aber nicht ist?
LENORE: Ich würde alles tun für eine Dusche.
JAY: Sehen Sie, was habe ich gesagt? Was habe ich Ihnen gesagt? Waschzwang ist was?
LENORE: Sagt wer?
JAY: Hören Sie, den Schleudersitz behalte ich mir immer noch vor. Lenken Sie nicht allzu dreist ab. Sage ich und sagt mein großer Lehrer Olaf Blentner, der Pionier der Waschzwang-Forschung ...
LENORE: Waschzwang ist Identitätsangst.
JAY: Ich ersticke am Gestank des Durchbruchs.
LENORE: Tut mir Leid, ich habe zurzeit einige Verdauungsstörungen, also
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