Der Besen im System
seien Sie nicht so ...
JAY: Halten Sie den Mund. Ich halte fest: Der ständige Vergleich zwischen dem wirklichen Leben und einer Geschichte ruft in Ihnen einen Waschzwang hervor beziehungsweise löst Identitätsangst aus. Aber haben Sie sich mal gefragt, ob nicht die Indoktrination durch Ihre Lieblichkeit Lenore die Ältere, deren momentane Abwesenheit mich nicht uneingeschränkt mit Trauer erfüllt, daran schuld ist? Die Macht der Worte und ihr Einfluss auf den außersprachlichen Bereich, da lachen ja die Hühner.
LENORE: Falsch. Erst einmal, und das ist ja Urgroßmutters These: Es gibt keinen außersprachlichen Bereich, es gibt überhaupt nichts außerhalb der Sprache. Und Sie brauchen auch gar nicht dauernd mit Worten wie »Indoktrination« und »Einfluss« um sich zu werfen, das tut Rick nämlich bereits. Wie kommt es eigentlich, dass Sie und Rick immer dieselben Sachen sagen, und das sogar beinahe wörtlich? Steckt ihr unter einer Decke? Erzählen Sie ihm, worüber in diesen Sitzungen geredet wird? Ist er deswegen so auffällig unneugierig? Verstoßen Sie gegen Ihre Schweigepflicht? Erzählen Sie ihm das alles?
JAY: Hören Sie, bitte. Abgesehen von Ihrer grandios zur Schau gestellten Empfindlichkeit scheint Sie am meisten zu beschäftigen, ob die Leute irgendetwas erzählen könnten. Warum ist dieses Erzählen für Sie immer identisch mit Kontrollverlust?
LENORE: Keine Ahnung. Wie viel Uhr ist es?
JAY: Spüren Sie keinen Unterschied zwischen Ihrem Leben und dem, was die Leute darüber erzählen könnten?
LENORE: Vielleicht kann ich mit etwas Wasser aus dem Krug da meine Achselhöhlen ...
JAY: Nun?
LENORE: Nein, eigentlich nicht.
JAY: Aber warum? Wie kommt das?
Schweigen seitens Lenore Beadsman .
JAY: Wie kommt das?
LENORE: Was sollte das für ein Unterschied sein?
JAY: Sie dürfen ruhig lauter sprechen.
LENORE: Was sollte das für ein Unterschied sein ?
JAY: Was?
LENORE: Was das für ein Unterschied sein sollte?
IAY: Unglaublich. Blentner wäre begeistert. Sie spüren also überhaupt keinen Unterschied?
LENORE: Genau. Und was soll das überhaupt heißen: spüren ?
JAY: Der Geruch des Durchbruchs, er wird übermächtig, ich halt’s nicht mehr aus. Entschuldigen Sie, ich muss mir nur kurz ein Taschentuch vor die Nase binden.
LENORE: Waschlappen.
JAY: ( gedämpft ) Sie müssen ja nicht gleich Ihr ganzes Leben definieren. Aber spürten Sie es nicht? Wenn Sie das Leben dieser Junkfood-Lady aus Ricks Geschichte spüren können, spüren Sie auch Ihr eigenes.
LENORE: Eben nicht. Sie spürt ihr Leben, ich nicht.
JAY: Sind Sie bekloppt?
LENORE: Weil sie alles kann, was in der Geschichte steht. Wenn dort steht, sie trauert so sehr um ihr erdrücktes Kind, dass sie ins Koma fällt, dann ist es so und dann tut sie es.
JAY: Aber das ist nicht echt.
LENORE: Doch. So echt, wie es gesagt wird.
JAY: Vielleicht liegt es ja doch an Ihrem Achselschweiß.
LENORE: Ich gehe jetzt.
JAY: Warten Sie.
LENORE: Drücken Sie den Startknopf von dem Stuhl, Dr. Jay.
JAY: Gott!
LENORE: Das Leben dieser Frau ist die Geschichte, und wenn es in der Geschichte heißt: »Die hübsche, dicke Frau war sich sicher, das ihr Leben real war«, dann ist das so. Was sie hingegen nicht weiß: Ihr Leben gehört ihr nicht. Für ihr Leben gibt es einen Grund, aber der liegt außerhalb ihrer selbst. Ihr Leben soll etwas, soll die Leute zum Lachen bringen oder als Beispiel dienen für irgendetwas, egal. Eine Figur wie diese Frau ist nicht einmal frei ausgedacht, sie ist für etwas gedacht. Sie ist Mittel zum Zweck.
JAY: Welcher Zweck? Sie meinen einen individuellen Zweck? Oder dass sie ihre Existenz jedem verdankt, der ihre Geschichte erzählt?
LENORE: Das muss kein individueller Zweck sein, er ist unabhängig von einzelnen Personen. Das Erzählen schafft sich seinen eigenen Zweck. Großmutter sagt, alles Erzählen wird zu einer Art System, das alle Beteiligten kontrolliert.
JAY: Wie das?
LENORE: Durch einfache Definition. Jedes Erzählen bringt nicht nur hervor, es begrenzt auch.
JAY: Ist Ihnen aufgefallen, dass auch ausgemachter Schwachsinn seinen eigenen spezifischen Geruch hat?
LENORE: Die dicke Frau ist nicht wirklich echt. Soweit sie doch echt ist, wird sie benutzt. Falls sie selber an ihre Echtheit glaubt, dann nur, weil das System, von dem sie benutzt wird, ihr auch die Überzeugung mitgibt, sie werde es nicht.
JAY: Und Sie behaupten im Ernst, Sie fühlen sich genauso.
LENORE: Sie sind dumm. Ist das ein echtes
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