Der Besen im System
ist sehr zufrieden mit sich, zumal er seine unkontrollierten Liebesbekundungen in der Öffentlichkeit schrittweise herunterfährt und sein Leben ganz gut in den Griff kriegt. Mit seiner Erfahrung als Eichspezialist und seiner neuerlichen Zurückhaltung bewirbt er sich erfolgreich bei einem Waagenhersteller, trotzdem vermisst er ab und zu seine alte Passion. Noch komplizierter sind die Veränderungen, die zur selben Zeit in der Frau vorgehen. Sie liebt den Mann und möchte die emotionale Bindung in ähnlicher Form auch auf die ganze Welt ausdehnen, was unter anderem zur Folge hat, dass sie anfängt, sich um ihr Äußeres Gedanken zu machen. Sie nimmt weiter ab, ersetzt die Flaschenbodenbrille durch Kontaktlinsen, lässt sich eine Dauerwelle machen. Bleibt noch das Problem mit dem fliehenden Kinn und den verschieden langen Beinen, aber egal. Vor allem betrachtet sie den Frosch in ihrem Hals mittlerweile als echten Klotz am Bein und identifiziert sich auch nicht mehr mit ihm und dem, wofür er steht, stattdessen identifiziert sie sich mit sich selbst und ihrer Verbindung zur Welt. Wie gesagt, ihre neue Weitsicht lässt den Frosch entsprechend schlecht aussehen, der nämlich bereitet ihr zunehmend Kummer, denn als Teil dieser Welt will sie auch nicht länger im Schatten stehen und der Welt nur ihr einseitiges Profil präsentieren. Aber gerade wegen dieses Frosches glaubt sie sich nun verstecken zu müssen, immerhin ein Reptil, das seine Trägerin von der Welt ausschließt und vor der Welt irgendwie anders und ziemlich eklig macht, eine Welt, zu der sie ja eigentlich gehören möchte.«
»Sind Frösche nicht Amphibien?«
»Angeberin. Na gut, dann Amphibie. Sie hat eine Amphibie am Hals und achtet deshalb fanatisch darauf, sich nur noch im Schatten aufzuhalten und auf den Schal Acht zu geben, auch wenn sie das der Welt wieder entfremdet. Je mehr sie von der Welt akzeptiert werden will, desto stärker spürt sie, vor allem mit Blick auf den Frosch, ihre Verschiedenartigkeit. Der Frosch macht sie allmählich wahnsinnig. Sie quält sich mit dem Frosch, deshalb fängt sie an, ihn zu quälen, und dann weint sie und sagt dem Mann, dass sie den Frosch hasst, worauf der Mann sie tröstet und sie zum Tanzen in einen Nachtclub ausführt, in dem besonders viele Schatten sind. Noch einen Kaugummi, bitte.«
»...«
»Aber es kommt noch schlimmer. Die Thermosfrau sitzt den ganzen Tag nur noch in der Wohnung herum und trinkt. Und wenn sie trinkt, schaut der Mann von seiner Arbeit hoch (er entwirft den Plan für eine neue Waage) und blickt sie traurig an. Und der Frosch, wenn er nicht gerade mit dem Finger angeschnippt wird, schaut den Mann an und blinkert traurig mit seinem unteren Augenlid.«
»...«
»Zu allem Unglück ist es mittlerweile Ende April, und der Frühling kommt mit Macht. Hast du jemals Frösche im Frühling erlebt, Lenore?«
»Nein.«
»Sie quaken, sie können nicht anders, es ist ihr Instinkt. Sie quaken wie verrückt. Und das, glaube ich, ist auch der Grund, warum der Frosch den Mann so traurig anschaut, während dieser wiederum die Thermosfrau so traurig anschaut. Auch ein Frosch kann ja nicht aus seiner Haut und hat so seine Bedürfnisse. Aber er wird wohl gemerkt haben, welch verheerenden Effekt sein Quaken jetzt auf die Frau hat. Früher hat sie sich im Frühling, auf dem Höhepunkt der Quakerei, immer versteckt, in diesem Jahr spürt sie ein großes Verlangen, sich der Welt mitzuteilen und teilzuhaben an der Welt. Der Frosch weiß womöglich, wie weh er der Frau tut, wenn er jetzt wie verrückt quakt, aber was soll er machen? Jedenfalls bringt das Gequake die Frau regelrecht um den Verstand, und es zerreißt sie innerlich, dass sie sich vor der Welt verstecken muss, und alles ist ganz furchtbar und lässt nichts Gutes ahnen.«
»O je.«
»Und eines Tages, nicht lange nachdem das Gequake in der Wohnung begonnen hat – die Luft draußen wird beschrieben als frühlingshaft mild und voll süßer Verheißung auf Blütenduft und laue Lüftchen, etwas, das sogar in New York zu spüren ist –, wie gesagt, an einem dieser Tage bekommt der Mann in der Firma einen Anruf vom Vater der Thermosfrau: Die Thermosfrau hat sich vor die U-Bahn geworden und ist auf entsetzliche Weise ums Leben gekommen.«
»Ach Gott.«
»Der Mann ist derart mit den Nerven fertig, dass er sich nicht einmal bei dem Vater für den Anruf bedankt, obwohl das für so einen osteuropäischen Vater eine echte Leistung ist, weil sie alle anderen
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