Der Besen im System
überraschend, aber dann doch nicht so fürchterlich überraschend erfahren wir, dass dieser von der Liebe besessene Mann um die dreißig überhaupt zum ersten Mal mit einer Frau schläft.«
»...«
»Hm, und für die Thermosfrau war es wohl auch das erste Mal.«
»...«
»...«
»Was ist los?«
»Mein Ohr. Scheiße, es fängt wieder an.«
»Versuch zu schlucken.«
»...«
»Oder zu gähnen.«
»...«
»...«
»Gott, Lenore, ich hasse Flugzeuge. Ich kann mir keinen größeren Liebesbeweis vorstellen, als dich auf dieser Reise zu begleiten. Ich tu das alles nur für dich.«
»Immerhin, du siehst Amherst im Herbst. Du hast mir erzählt, der Herbst in Amherst wäre zum Weinen schön.«
»...«
»Auf jeden Fall bist du jetzt nicht mehr so blass. Darf ich davon ausgehen, dass es deinem Ohr besser geht?«
»Gott.«
»...«
»Okay, sie schlafen also miteinander, und der Mann ist sehr verständnisvoll und zärtlich, was er, wie wir annehmen dürfen, nicht hätte sein können, wäre er auf die frühere, völlig überzogene Art in die Thermosfrau verliebt gewesen. Die Thermosfrau weint vor Rührung angesichts so viel Zärtlichkeit und Zuwendung und verliebt sich jetzt ihrerseits in den Mann und glaubt allmählich an die Möglichkeit, mit der Außenwelt in Verbindung zu treten. Und so liegen sie im Bett mit ihren nicht ganz deckungsgleichen Extremitäten. Der Mann hat seinen Kopf an das flache, fliehende Kinn der Frau gelegt und spielt mit dem Schal um ihren Hals, was die Frau eigentlich nicht leiden kann, wie der Mann sehr wohl bemerkt, doch Neugier und echtes Interesse sind stärker, sodass er, halb neckisch, halb experimentell, darangeht, ihr den Schal abzunehmen, worauf sich die Frau völlig verkrampft, was den Mann trotzdem und unter Aufbietung noch größerer Willenskraft nicht davon abhält, obwohl sie weint. Unter Küssen und gutem Zureden entfernt er also den Schal, wirft ihn beiseite und erkennt im Halbdunkel des Zimmers etwas mehr als Seltsames am Hals der Frau. Er steht auf, schaltet das Licht an und sieht, dass in einer Vertiefung am unteren linken Teil ihres Halses ein Laubfrosch wohnt.«
»Wie bitte?«
»Ja. In einer perfekt geformten Höhle ihres Halses, übrigens keiner Wunde, sitzt ein kleiner grüner Laubfrosch mit weißer Kehle und pulsierendem Luftsack. Aus seiner Höhle im Hals der Frau schaut der Laubfrosch den Mann mit seinen klugen, klaren Reptilienaugen an und blinzelt, wobei sich, anders als beim Menschen, das Lid von unten her schließt. Die Frau weint jetzt, endlich hat jemand ihr Geheimnis entdeckt: In ihrem Hals lebt ein Laubfrosch.«
»Sag mal, spinn ich oder wird die Geschichte hier nicht etwas abartig?«
»Na ja, der weitere Zusammenhang dürfte die Abartigkeit relativieren. Der Laubfrosch in ihrem Hals ist das, was die Thermosfrau davon abgehalten hat, mit der Welt in Kontakt zu treten, siehe auch die damit verbundenen Metaphern Dunkelheit und Schatten. Ist das, was sie gefesselt hat, siehe den Schal, den sie nie ablegen konnte. Ist das, was verhindert hat, dass sie sich der Welt zuwenden konnte, siehe ihr einseitiges Profil. Der Laubfrosch ist der Mechanismus der Entfremdung, ist Symbol und Ursache ihrer Isolation. Allerdings kommt später heraus, dass sie dem Laubfrosch intensiv zugetan ist und ihm mehr Aufmerksamkeit schenkt als beispielsweise sich selbst, zumindest wenn sie allein in ihrer Wohnung ist. Dem Mann fällt auf, dass alle ihre Schals, hinter denen sie den Laubfrosch versteckt, mit winzigen, beinahe unsichtbaren Luftlöchern versehen sind, die sie nachts mit einer Nadel in das Tuch sticht.«
»Jetzt tut sogar mein Ohr weh. Wir müssen ziemlich hoch fliegen.«
»Woraus folgt, dass genau das, was die Frau gegen ihren Willen der Welt entfremdet und unglücklich gemacht hat, zugleich der Mittelpunkt ihres Lebens ist, etwas, auf das sie auf nicht näher geklärte Weise sogar stolz ist, etwa dass sie den Frosch mit ihrem Finger füttern kann oder dass er sich von ihr mit einem Brieföffner den Hals kraulen lässt. So bleibt alles etwas in der Schwebe, denn es ist überhaupt nicht klar, ob die Thermosfrau wirklich den Kontakt zur Welt anstrebt oder nicht. Nur sorgt die Anwesenheit des Mannes dafür und nicht zuletzt seine unaufdringliche Fürsorge gemäß den Empfehlungen der Liebestherapeutin, dass sich die Frau immer mehr auf ihn einlässt und ihr Verhältnis zum Laubfrosch immer weiter in Frage stellt, ihn ab und zu sogar böswillig mit dem Finger anschnippt,
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