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Der Besen im System

Titel: Der Besen im System Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foster Wallace
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aufzuhalten, ohne sich gleich in sie zu verlieben. Dem Mann schwirrt der Kopf, erst einmal, weil es ihn mit der Sprechstundenhilfe voll erwischt hat, dann aber auch durch den klugen und außerordentlichen Therapieansatz der übrigens nicht unerotischen Liebestherapeutin, sodass er beschließt, es auf jeden Fall einmal zu versuchen, wobei sein Blick auf die Thermoskanne fällt, die er immer noch in der Hand hält, samt Klebeband mit der Adresse der Thermosfrau, wobei ihm der Vorfall in der U-Bahn wieder einfällt und er so etwas wie eine Eingebung hat. Wer wäre als Kandidatin für diese Abstinenztherapie besser geeignet als ebendiese Frau mit ihren fettigen Haaren, ungleichen Beinen und ihrer gestörten Psyche?«
    »Klappt das mit dem Kaugummi?«
    »Einen neuen, bitte.«
    »Hier.«
    »...«
    »Und?«
    »Habe ich mich beklagt?«
    »Guter Punkt.«
    »Nächste Szene, ein paar Tage später: Der Mann und die Thermosfrau gehen im Central Park spazieren. Oder vielmehr, der Mann geht, die Frau humpelt. Sie gehen Hand in Hand. Für den Mann ist es ein rein platonisches Händchenhalten, bei der Frau wissen wir es nicht. Wir erfahren jedoch, dass der Mann die Thermosadresse aufgesucht und mit der Frau gesprochen hat, wodurch es ihm nach einiger Zeit und vielen Besuchen gelungen ist, ihre pathologische Befangenheit wenigstens teilweise zu zerstreuen. Und jetzt gehen sie Hand in Hand, doch von Ungezwungenheit kann kein Rede sein, denn die Frau erträgt die Sonne nicht, sodass sie ständig nach dem nächsten Baum Ausschau hält, außerdem muss ihr Hals immer bedeckt sein, weswegen sie ständig an einem der vielen Schals zupft, in die sie sich gewickelt hat. Und außerdem will sie dem Mann immer nur ihr rechtes Profil zeigen, nie das linke, weswegen er auch nie etwas anderes von ihr zu sehen bekommt, da sie, egal, wie er sich dreht und wendet, immer denselben Winkel zu ihm einhält, was wirklich etwas Zwanghaftes hat.«
    »...«
    »Nicht nur räumlich, auch emotional achtet sie auf Abstand, scheint niemanden außer der Familie an sich heranzulassen, die in Yonkers wohnt. Aber je mehr der Mann seine Unterscheidungskraft trainiert, das heißt, je öfter er sie besucht, desto klarer wird ihm, dass sie in Wahrheit Kontakt zur Welt und ihren Menschen aufnehmen will, sehr sogar, es aber nicht kann, und zwar aus Gründen, die er nicht versteht, von denen er aber vermutet, dass sie etwas mit Schatten, Schal und Profil zu tun haben.«
    »...«
    »Dann passiert etwas Komisches. Der Mann beginnt die Frau zu mögen, was ausdrücklich nichts mit Liebe zu tun hat, sondern mit Sympathie, etwas, das er noch nie zuvor verspürt hat. Er weiß nur, dass diese Sympathie sehr viel mehr Aufmerksamkeit für den realen Menschen verlangt als die vormalige, unkontrollierbare, leidenschaftliche Liebe und dass diese Aufmerksamkeit auch Facetten der Frau einschließt, die nicht das Geringste mehr mit ihm zu tun haben. Es wird deutlich, dass der Mann zum ersten Mal in seinem Leben eine echte Verbindung zu einem anderen Menschen eingegangen ist, denn sein Liebeswahn von früher, der so aussah wie die totale Liebe, war im Grunde nichts weiter als eine Strategie zu ihrer Vermeidung, was nicht nur durch die Reaktion der Außenwelt bestätigt wurde, sondern vermutlich von Anfang an, so der Erzähler etwas psychologisierend, in seiner Absicht gelegen hat. Die Unfähigkeit, Unterscheidungsmerkmale wirksam werden zu lassen, hat ihn daran gehindert, mit der Welt in Kontakt zu treten, ähnlich wie sich die Thermosfrau die Welt mittels Schatten, Schal und Profil vom Leibe hält.
    Was den Mann übrigens immer mehr ärgert und ihn auch immer neugieriger macht, vor allem, da er sich der Frau immer mehr verbunden fühlt, wenn auch nicht auf die leidenschaftliche Art, und er der Ansicht ist, sie selber wolle es im Grund auch: verbunden sein. Und so gewinnt er zunehmend ihr Vertrauen und ihre Zuneigung, was sich bei ihr darin äußert, dass sie sich öfter einmal die Haare wäscht und eine Diät macht und sich Spezialschuhe für ihre unverschämt ungleichen Beine kauft. Und obwohl die Dinge Fortschritte machen, ist klar, dass die Thermosfrau irgendetwas quält. Und dann, eines Abends Ende April, nach einem gemeinsamen Spaziergang durch den hübscheren Teil von Brooklyn, begleitet der Mann die Frau zu ihrer Wohnung und schläft mit ihr. Ja, er verführt sie regelrecht, zieht sie aus bis auf den Schal, den er nach wie vor als Grenze respektiert, und schläft mit ihr, und

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