Der bessere Mensch
meinte Wedekind und ging in die Wohnung, um Schäfer die Tür zu öffnen.
Die Einrichtung war noch etwas karg, aber durchaus geschmackvoll. Fast weiblich, dachte Schäfer, als er die orange- und türkisfarbenen Wandteppiche betrachtete. Wedekind ließ die Jalousien herunter. Schäfer solle sich auf den Tisch legen, Bauch nach unten, Hände neben das Gesäß. Langsam und gleichmäßig atmen, ganz entspannt liegen. Während Schäfer tat, wie ihm geheißen, legte sein Nachbar eine CD mit indianischer Musik ein. Heya, heya, heya, heyayaya … wo bin ich denn hier gelandet, dachte Schäfer, während Wedekind mit dem Handballen sanft auf seinen Nacken einzudrücken begann. Als er das Gleiche bei Schäfers Steißbein tat, bekam er völlig unerwartet eine Erektion.
„Ihre Libido ist blockiert“, meinte Wedekind nüchtern, wobei Schäfer genau den gegenteiligen Eindruck hatte.
Doch womöglich hatte sein Nachbar recht. Isabelle hatte er zuletzt vor vier Wochen gesehen. Und wenn er es sich recht überlegte: Wann hatte er denn zuletzt mit einer Kellnerin geflirtet oder auch nur einer Frau hinterhergesehen? Er hatte keine Lust, das war es wohl; auf dem Beipackzettel ebenfalls als Nebenwirkung angeführt; doch mit dieser hatte Schäfer nicht gerechnet.
Mit einem leisen „Danke“ teilte Wedekind dem fast schon schlafenden Schäfer nach einer knappen Stunde mit, dass die Behandlung beendet sei. Doch er solle noch so lange liegen bleiben, bis er wieder ganz bei sich sei.
„Chmm“, machte Schäfer und zwang sich nach ein paar Minuten, die Augen zu öffnen und aufzustehen.
„Sie sind gut in Form, aber ziemlich verhärtet.“ Wedekind hielt Schäfer eine Tasse hin.
„Ich fühle mich aber gerade ziemlich weich … das war eine Wohltat, danke.“
„Gern geschehen … wann immer Sie möchten.“
„Nur wenn ich Ihnen dafür den üblichen Stundensatz zahlen darf“, sagte Schäfer und trank das lauwarme Ingwergetränk in einem Schluck.
„Beim nächsten Mal … dieses Mal geht aufs Haus.“
„Na, dann sage ich doppelt Danke … und jetzt werde ich mich wohl hinlegen … gute Nacht, Herr Nachbar.“
„Gute Nacht, Major.“
Obwohl Schäfer wie erschlagen war, gelang es ihm nicht, einzuschlafen. Diese Ausstellung … der Blick auf das Plakat hatte wie ein Schlag unterhalb der Kniescheibe funktioniert, das Entsetzen war nach oben geschnellt; die alltäglichen Leichen, egal in welchem Zustand, vermochten diesen Reflex nicht mehr auszulösen … aber Kinder, wie konnte jemand so mit Kindern umgehen? Er wälzte sich ein paarmal herum und stand schließlich auf, um sich vor dem Fernseher abzulenken. Bei einem Verkaufssender, auf dem ein vorgealterter, solariumoranger Mann unter Aufputschmitteln einen Universalmixer anbot, blieb Schäfer hängen. Zuerst landeten die üblichen Gemüsesorten in verschiedenen Plastikaufsätzen … ein Knopfdruck und Suppe. Doch als der Verkäufer einen Avocadokern und dann eine Handvoll Betonschutt in den Mixer warf und dieser alles zu feinem Staub verarbeitete, richtete sich Schäfer auf und sah der Präsentation mit wachsendem Interesse zu. Zu guter Letzt schrieb er sich den Namen des Geräts auf einen Notizzettel, stellte den Fernseher auf lautlos und nahm das Telefon. Er suchte die Nummer seiner Nichte aus dem Adressbuch und drückte die Wähltaste. Er ließ es läuten, bis die Mailbox kam, und legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Dann eben ihren Vater.
„Hallo Jakob … Wieso soll ich nicht schlafen können, darf ich meinen Bruder nicht mehr anrufen … Gut, dir? Hast du Dienst? … Wer ist denn gestorben? … Bienenfeld? Nein, sagt mir nichts … Okay, natürliche Ursache? … In seiner Ordination? Und da hat ihm niemand geholfen? … Verstehe, wie alt war er? … Trotzdem früh … Wie geht’s Lisa? … Habt ihr wieder gestritten? … Nein, bestimmt nicht … Vielleicht zieht sie ab und zu an einem Joint … Aber nie in dem Ausmaß, wie wir das betrieben haben, liebes Brüderlein … Natürlich ist das mit den eigenen was anderes, aber … Behaupte ich auch gar nicht … Aber im Vergleich zu den Jugendlichen, die ich hier so mitbekomme, fällt Lisa in die Kategorie brav bis spießig … Also mach dir nicht zu viele Sorgen … Ja, ich rede mit ihr, versprochen … Na dann, entspannten Dienst noch und bau keinen Kunstfehler … Grüß Lisa von mir … Und natürlich auch Monika … Servus.“
Schäfer legte das Telefon weg und musste über die Sorgen seines Bruders lächeln.
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