Der bessere Mensch
umgab, legte die Lenkradsperre ein und stieg aus. Sie liefen sich ein und steigerten dann langsam ihr Tempo, bis ihnen das Reden schwerfiel. Für ein effizientes Training waren sie zu schnell unterwegs, das war ihnen beiden klar – doch seit Schäfer wieder regelmäßig Sport trieb, hatte sich auch wieder der Wettkampfcharakter ihrer gemeinsamen Laufrunden eingestellt. Als sie an der Otto-Wagner-Basilika vorbeikamen, sah Schäfer das Plakat, das auf die Ausstellung in einem der Pavillons der psychiatrischen Anstalt hinwies. Das Telefonat mit Isabelle, so schließt sich der Tageskreis, dachte er beim Anblick des ausgezehrten Mädchens, das von einem amerikanischen GI mit Rotkreuz-Binde aus dem Gebäude getragen wurde. Hier hatte der Arzt gewütet, dem jetzt am Internationalen Gerichtshof in Den Haag der Prozess gemacht wurde. Dass dieser über sechzig Jahre nach seinen Verbrechen ausgeliefert werden konnte, war auch dieser Ausstellung zu verdanken. Zwei deutsche Journalisten hatten sich nach deren Besuch auf die Spur des Folterers gesetzt und ihn schließlich in Buenos Aires gefunden. Wie war jemand zu so etwas fähig? Und wer bringt es fertig, diesen Wahnsinn heute noch zu verteidigen, gedachte Schäfer des jüngst verblichenen Hermann Born.
Ein Mann mit ungepflegtem Vollbart, in Socken und in einem hellblauen Schlafanzug kreuzte ihren Weg, unverständlich vor sich hin murmelnd und gierig an einem erloschenen Zigarettenstummel saugend. Ein Patient der Psychiatrie, war sich Schäfer sicher und wurde von einer in letzter Zeit sehr seltenen Schwermut befallen. Dieser riesige wilde Park, durch den sie liefen, ein einziger bipolarer Zustand, wo sich die zahlreichen Obstbäume der herrschenden Hoffnungslosigkeit in der Klinik entgegenzustemmen schienen, indem sie im Frühjahr wie manisch erblühten, größer, duftender und üppiger als anderswo. Und wie nah war Schäfer selbst vor Kurzem diesem Zustand aussichtsloser Verzweiflung gewesen. Hatte sich schon als einer der tragisch in sich gekehrten Menschen gesehen, die ihm beim Laufen regelmäßig unterkamen. Die Depressiven, Schizophrenen, Suchtkranken, deren Zustand ihnen meist nicht einmal erlaubte, ihre Kleidung dem Wetter anzupassen. So zogen sie barfuß durch den Schneematsch, hüllten sich im Juli in dicke Jacken, zwischen den Fingern erloschene Zigarettenstummel, an denen sie gierig saugten. War es schlicht Glück gewesen, das ihn vor einem derartigen Schicksal bewahrt hatte? Doch was wäre es schon gewesen im Vergleich zu dem, das den Hunderten Kindern während des Krieges hier heroben widerfahren war. Schäfer hielt an einem Brunnen und hielt den Kopf unter das fließende Wasser.
„Gesund ist das nicht“, ermahnte Bergmann ihn.
„Aber das geringere Übel.“
Bevor sie zurück zum Wagen gingen, machten sie an einem Holzzaun ein paar Dehnungsübungen, schweigsam und auf das Ziehen in den Muskeln konzentriert.
„Ist irgendwas?“, wollte Bergmann wissen, als sie langsam den Wilhelminenberg hinabfuhren.
„Nein … doch … die Ausstellung ist mir wieder eingefallen … wo ich vorigen Monat mit der Schulklasse war …“
„Hat mir auch ein paar schlimme Träume beschert …“
„Sie waren auch dort?“
„Ja … letzte Woche …“
„Freiwillig?“
„Wie man’s nimmt … auf jeden Fall ist Ignorieren und Wegschauen auch eine Form der Wiederbetätigung, oder?“
„Wie wahr … bis morgen“, sagte Schäfer und drückte die Wagentür auf.
„Ja, bis morgen“, erwiderte Bergmann mit einem gezwungenen Lächeln.
Gleich nachdem er die Wohnung betreten hatte, schlüpfte Schäfer aus seinem Laufdress und stellte sich unter die Dusche. Doch die Schwermut, die auf ihm lastete, ließ sich nicht abwaschen wie die Salzkrusten auf dem Gesicht. Mit einem Glas Wasser und einem überreifen Pfirsich setzte er sich auf den Balkon. Ihm war übel und er war froh, als sein Nachbar auf den Balkon trat.
„Müde?“
„Ja … war ein anstrengender Tag …“
„Soll ich Sie massieren?“
„Wie bitte?“
„Ich bin Heilmasseur … klassische Massage, psychoenergetische, Shiatsu …“
Schäfer wollte ablehnen; er fühlte sich wie ein gestrandeter Wal in seinem Liegestuhl; andererseits: Tun Sie sich etwas Gutes, Herr Schäfer.
„Na ja … wenn es Ihnen keine Umstände macht …“
„Überhaupt nicht … ich muss ohnehin wieder langsam in Übung kommen …“
„Na gut … soll ich zu Ihnen hinüberkommen?“
„Wäre am besten, da haben wir den Tisch“,
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