Der bessere Mensch

Stadt könne er über eine kopflose Leiche stolpern und würde eine natürliche Todesursache annehmen. Worauf sie beide gleichzeitig mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte klopften.
    Am Tag vor Schäfers Abreise rief ihn Bruckner zu Hause an und teilte ihm mit, dass der Vater des toten Mädchens freigesprochen worden war. Außerdem wünschte er ihm einen schönen Urlaub, er solle sich gut erholen und sich vom Strafgerichtshof fernhalten. Und schöne Grüße an die Staatsanwältin. Schäfer bedankte sich und legte auf. Er ging ins Schlafzimmer und durchwühlte seinen Kasten nach Kleidung, die er in Den Haag brauchen könnte. Eigentlich sollte er sich jetzt freuen, oder? Immerhin hatte er einen Unschuldigen vor dem Gefängnis bewahrt. Doch was hieß das in diesem Fall schon … wie auch immer: Hätte er sich anders entschieden, wären ihm die Zweifel auch nicht erspart geblieben. Dann wären sie unter Umständen noch schlimmer gewesen. So konnte er wenigstens ohne schlechtes Gewissen in den Spiegel schauen.
    Am Nachmittag unternahm er einen Spaziergang über die Steinhofgründe. Eine abschließende Runde, wie er sich sagte, als er an der psychiatrischen Klinik vorbeikam. Das Transparent, das für die Ausstellung warb, hing immer noch an der Ziegelmauer eines der Pavillons. Melancholisch wurde er, doch auf eine Weise, die ihn nicht bedrückte. Sein Ausbildner Pürstl kam ihm in den Sinn – sein Leitstern, den er sich immer wieder in Erinnerung rief, wenn er vor einem scheinbar unlösbaren Problem stand oder im Gegenteil euphorisch den Himmel küsste. Alles ist ein Geschenk, hatte Pürstl bei ihrem letzten Treffen gemeint, das auch schon wieder über ein Jahr her war und sich wie gewohnt bis spät in die Nacht gezogen hatte. Überraschung von mir aus, aber ein Geschenk sieht anders aus, hatte Schäfer erwidert, der damals gerade in einer schweren Krise erstarrt gewesen war. Was für ein Hochmut sei es denn, von einem Geschenk zu erwarten, dass es einem gleich im Augenblick der Übergabe Freude bereitet, hatte der euphorisch alkoholisierte Pürstl gemeint. Ist es nicht auch die Aufgabe des Beschenkten, die wie auch immer geartete Gabe so zu behandeln, dass sie sich irgendwann zu etwas Gutem wandelte?
    Ja, Schäfer lächelte. Wo läge sonst der Sinn darin, seinen langjährigen Begleiter und engsten Vertrauten von zwei Kugeln getroffen am Boden zu sehen? Ein junges Mädchen zu finden, das sich gerade das Leben genommen hatte? Was war der Sinn seiner Arbeit, wenn nicht, all seine Kraft darauf zu verwenden, das Böse in etwas Gutes zu verwandeln. Er dachte an Kastor und empfand mit einem Mal Mitgefühl mit dessen geschundener Seele. Ruht in Frieden, ihr alle, sagte Schäfer leise und bückte sich nach einer Kastanie, die eindeutig zu früh vom Baum gefallen war.

Zum Autor
    Georg Haderer, geboren 1973 in Kitzbühel/Tirol, lebt in Wien. Nach einem abgebrochenen Studium und einer vollendeten Schuhmacherlehre arbeitete er als Journalist, Barmann, Landschaftsgärtner, Skilehrer und Werbetexter. Bei Haymon: Schäfers Qualen (2009), sein Debüt und zugleich erster Teil der Reihe rund um Polizeimajor Schäfer, der zweite Teil Ohnmachtspiele (2010), sowie der dritte Teil Der bessere Mensch (2011). www.georghaderer.com

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    ISBN 978-3-85218-704-4
    Umschlag- und Buchgestaltung, Satz: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
    Coverfoto: Ricardo Herrgott
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