Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
zerreißen. Doch sofort fand Anna die Vorstellung,
sich an einem harmlosen Idioten für den unerfreulichen Nachmittag mit ihren
Eltern zu rächen, reichlich demütigend. Im Grunde war sie nur böse auf sich
selbst. Weil sie regelmäßig in die gleichen Fallen tappte. Als wüßte sie es
nicht besser.
Der Abend dämmerte langsam über dem St. Johanner Markt in
Saarbrücken, als Volker und Eberhard satt und zufrieden ihre Steakmesser
beiseite legten und synchron nach ihrem Bier griffen. Seit dem Mittag im Wald
hatte es nicht mehr geregnet, inzwischen hatte sich die Luft sogar so erwärmt,
daß man auf einen nun endlich, immerhin Mitte Juni, beginnenden Sommer zu
hoffen wagte. Sie saßen draußen vor der »Tante Maya« mit Blick über den
kleinen, mit Kopfstein gepflasterten Marktplatz, eine Empfehlung von Kommissar
Philipp, der sie auch in einem nahe gelegenen Hotel untergebracht hatte. Vor
zwei Stunden hatten sie ihre spurenkundliche Arbeit beendet, den Zeugen
vernommen, Philipp bei der lokalen Ermittlungsplanung unterstützt und die weitere
Vorgehensweise koordiniert. Christian war mit bei der Sektion der Kinderleiche,
die Karen in der Homburger Uniklinik, dem Sitz der Saarbrücker Rechtsmedizin,
durchführte. Außerdem wollte die Pathologin noch einige serologische und
toxikologische Untersuchungen vornehmen. Die beiden würden später zum Essen
nachkommen. Karen legte keinen großen Wert auf Eberhards Anwesenheit bei ihrer
Arbeit, seit ihm bei der Untersuchung einer Wasserleiche schlecht geworden war.
Und Volker leistete lieber Eberhard bei einem blutigen Steak Gesellschaft als
Karen bei ihrer blutigen Arbeit.
Eberhard Koch, 34 Jahre alt, gutaussehend, durchtrainiert und wegen
seines zum Hobby passenden Nachnamens »Herd« genannt, gehörte seit fünf Jahren
zu Christians Team. Er war ein hervorragender Kriminaltechniker und Christians
Spezialist für Tatortarbeit: ein akribischer Geist mit scharfem Auge, dem
einfach nichts entging, geschätzt und zugleich berüchtigt für seine penible
Art, die ganz und gar nicht zu seinen Ausbrüchen albernen Humors zu passen
schien. Er lebte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern zusammen, die er
abgöttisch liebte und mit denen er seine knapp bemessene Freizeit komplett
verbrachte, wenn man von den täglich anderthalb Stunden Joggen absah. Im Laufen
fand Eberhard die ausgleichende Monotonie, die er als Gegengewicht zu seiner
emotional aufwühlenden Arbeit brauchte.
»Noch zwei Bier?« fragte er Volker. »Für mich auch zwei«, kalauerte
Volker. Eberhard winkte die Bedienung herbei und bestellte. Dann ließ er seinen
Blick über die Passanten schweifen. Es war viel los um sie herum. Mehrere
Kneipen säumten den fast quadratischen Platz, die Wirte hatten Tische und
Stühle in den jeweiligen Brauereifarben rausgestellt, dennoch fanden nicht alle
Gäste eine Sitzgelegenheit. Auch die Steinstufen um den Brunnen in der Mitte
des Platzes waren belagert von jungen Leuten, die vergnügungshungrig der
Samstagnacht entgegenfieberten, als gäbe es kein Morgen. Gesprächsfetzen und
lautes Lachen schallten zu Volker und Eberhard herüber.
»Macht ’n ganz friedlichen hier«, fand er.
»Das Böse lauert unter der Haut, Herd«, gab Volker zurück.
Dieser knappe Kommentar war typisch für den 39jährigen, der sich
durch einen scharfen Verstand und ein scheinbar von jeglichen menschlichen
Gefühlen unbelecktes Urteilsvermögen auszeichnete. Zumindest wirkte er so auf
Außenstehende. Die wenigen allerdings, die ihn gut kannten, wußten, daß der
Buddhist, asketische Teilzeit-Vegetarier und fünffache Fahrradbesitzer ein
reiches Innenleben und eine tiefe Empfindsamkeit besaß, die er geschickt
verbarg, um keine Angriffsfläche zu bieten. Der brillante Fallanalytiker
sicherte seit vier Jahren mit Eberhard die Spuren, untersuchte und diskutierte
sie mit ihm. Seine Fähigkeiten entfaltete er jedoch am besten in der
Ermittlungsarbeit, bei der psychologischen Kriegsführung im direkten Kontakt
mit dem Gegner. Christian setzte ihn immer wieder bei der Befragung
widerspenstiger oder verwirrter Zeugen ein. Legendär war, wie Volker eine etwa
fünfzigjährige Eppendorfer Zicke »geknackt« hatte, die ihnen mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit wichtige Informationen in einem Mordfall
vorenthielt. Stundenlang hatten Christian und Eberhard sich mit der Frau
abgemüht, mit Engelszungen auf sie eingeredet, sie – absurderweise – der unterlassenen
Hilfeleistung beschuldigt, sie moralisch
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